Wenn ich an seine Worte denke, werde ich kurz traurig. Denn er fehlt mir. Vor etwas mehr als einem Jahr ist er bei einem Autounfall gestorben und hat eine große Leere hinterlassen, nicht nur in meinem Leben. Seitdem hat sich so vieles verändert. Mum und ich zogen von Horley, das eine gute Dreiviertelstunde von London entfernt ist, in die Stadt zu Tante May, die hier ein kleines Haus gemietet hat und uns beiden angeboten hatte, uns ein wenig unter die Arme zu greifen. Darüber bin ich zwar sehr froh, aber hin und wieder vermisse ich mein altes Leben schon, die kleine Stadt und das, was wir dort hatten.
Das einzig Gute ist, dass ich hier jetzt Jill habe. Wir kannten uns schon von früher, weil sie damals, wenn ich bei Tante May zu Besuch war, nur ein paar Häuser weiter wohnte. Und wir haben den Kontakt nie verloren. Immer wenn ich in London war, zogen wir zusammen herum und verbrachten Zeit miteinander. Jetzt, nach der Scheidung ihrer Eltern, wohnt sie zwar ein paar Blocks weiter weg bei ihrer Mum, aber Freundinnen sind wir noch immer und gehen nun zudem auf die gleiche Schule.
»Was hast du gesehen?«, flüstert Jill mir zu.
Sie kennt mich zu gut.
»Es ist albern, aber ich dachte, auf der Brüstung da unten saß ein Liebespaar. Ich hatte so ein Gefühl, dass sie auf der Flucht seien. Vor irgendwelchen Männern in Kutten.«
»Klingt spannend.« Sie grinst. »Wurden sie erwischt?«
»Nein, nicht direkt, aber sie sind hier hinuntergesprungen.« Ich blicke zu dem Vorsprung hinter dem Glas, der mich auch dazu gebracht hat, mir den Kopf anzuschlagen.
»Was? In die Themse? Das haben die nie und nimmer überlebt«, ihre Worte versetzen mir einen kleinen Stich. Ja, sie hat recht. Das ist wirklich unmöglich.
»Also, da genieße ich doch lieber die Aussicht hier oben. Mal im Ernst, das ist klasse, oder? Kaum zu glauben, dass wir schon so lange nicht mehr hier waren. Dabei leben wir doch in London. Da brauchen wir erst diesen Schulausflug, um hier raufzukommen.«
Ja, Jill hat recht, die Aussicht ist wirklich unvergleichlich.
»Auf die da könnte ich allerdings echt verzichten.« Jill deutet auf Lilly, die gerade auf die Hauptattraktion hier oben zuschwebt: einen Boden mit eingelassenen Glasplatten. Dabei streicht sie sich lasziv durch das blonde Haar und blickt hinüber zu unserem Guide, der es ihr offensichtlich angetan hat.
Lächelnd stupst Jill mich an und zeigt auf den Glasboden. »Komm, da müssen wir auch rauf. Was meinst du, sollen wir? Was die kann, können wir doch auch.« Sie zupft an meiner dunkelblauen Jacke, die zu unserer Schuluniform des St. Michael’s College gehört, einer alten Traditionsschule mitten in der Londoner City, für die Tante May das Schulgeld bezahlt, was wir uns sonst nicht leisten könnten. Aber sie wollte unbedingt, dass ich auf eine gute Schule gehe.
Ich drehe mich um, und mein Blick gleitet über den mit Holz belegten langen Gang, in den die Glasplatten eingelassen sind. Lilly genießt es sichtlich, ohne Scheu darauf auf und ab zu stolzieren – genau wie ihre Freundin Ashley, die ihr sowieso immer alles nachmachen muss. Im Gegensatz zu meinem ähnelt Lillys Gesicht dem einer Puppe: Die blonden, glatten Haare sind samtig, die Stupsnase ist klein und ihre Haut so fein wie Porzellan. Kein Wunder, dass alle Jungs auf sie stehen. Ich hingegen habe Sommersprossen im Gesicht, ein Muttermal am Kinn, und meine Haare sind braun und undefinierbar gewellt.
»Der Glasboden ist gute elf Meter lang und so belastbar, dass mindestens hundertfünfzig Menschen gleichzeitig darauf stehen könnten – oder fünf Elefanten«, erzählt der Guide nun mit einem Augenzwinkern. »Wobei wir das mit den Elefanten nicht testen konnten. Aber habt trotzdem keine Angst. Kommt ruhig alle näher und probiert es aus, es ist ein tolles Erlebnis.«
»Also, gehen wir?« Jill sieht mich erwartungsvoll an. »Wenn der Boden Elefanten aushält, dann doch auch uns.«
»Ja, warum nicht? Lass uns gehen.« Meine Stimme hört sich mutiger an, als ich es tatsächlich bin. Dennoch folge ich Jill und riskiere schließlich vom Rand aus einen Blick durch das Glas im Boden. Sofort werden meine Knie weich. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, von hier oben auf die vielen Menschen da unten hinabzuschauen – besonders nach den Bildern, die ich eben gesehen habe.
Natürlich weiß ich, dass nichts passieren kann, es waren nur Bilder, dennoch ist mir mulmig zumute. Den Glasboden zu betreten, ist doch noch etwas anderes, als nur am Rand zu stehen. Irgendwie stemmt sich mein Körper dagegen.
Jill hingegen überwindet sich bereits und wagt vorsichtig den ersten Schritt.
»Oh mein Gott, Amy, das ist der Wahnsinn. Komm her.« Während ich noch zögere, steht Jill bereits drauf, zieht ihr Handy aus der Tasche und richtet es nach oben gegen die Decke. »Ah! Da ist ein Spiegel, extra um Fotos zu machen. Schau mal, wie genial das aussieht.«
Aufgeregt schießt Jill ein paar Fotos und hält mir dann das Handy hin. Die Bilder sind echt gut, perfekt für Instagram.
»Lass uns eins zusammen machen, das können wir dann posten«, schlägt sie vor. »Kommst du?«
Ich würde ja wirklich gern, aber mir wird der Boden aus Glas immer unheimlicher. Sosehr ich auch möchte, es geht nicht.
Lilly muss uns beobachtet haben, denn sie verdreht die Augen und mustert mich abschätzig, während sie ebenfalls ihr Handy zückt. Mir egal, soll sie denken, was sie will.
Jill, die noch immer begeistert Fotos schießt, bekommt jetzt Gesellschaft von Thomas, ihrem heimlichen Schwarm, dessen Kumpel Charly und weiteren Klassenkameraden. Alle zeigen absolut keine Scheu, sondern haben ihren Spaß.
Ich muss mich jetzt endlich überwinden, denke ich, denn ich möchte am Ende nicht die Einzige sein, die sich nicht getraut hat. Okay, Schritt für Schritt, nehme ich mir vor, als Jill erneut zu mir an den Rand kommt und mir die Hände entgegenstreckt. »Los, ich helfe dir.«
Erleichtert greife ich zu und lasse mich schließlich zu ihr auf die Glasplatten ziehen. Mit wackeligen Beinen und klopfendem Herzen stehe ich da, versuche, mich daran zu gewöhnen und ruhig zu atmen. Das geht doch eigentlich ganz gut.
Doch dann senke ich den Blick. Unter mir fließt die Themse, dunkel und gewaltig, und ganz plötzlich geht ein Ruck durch mich hindurch. Wieder sind da diese Liebespaarbilder, wie im Schnelldurchlauf fliegen sie durch meinen Kopf. Der Sturz der beiden, die Themse. Völlig verwirrt weiche ich zurück.
»Sorry, ich kann da nicht rauf. Ich gebe auf.«
»Echt nicht? Nicht mal einen einzigen Versuch? Das ist doch wirklich nicht schlimm. Hallo, du warst bereits mit mir im Golden Eye, das ist ja mal viel höher«, sagt Jill, aber ich passe.
»Ich weiß, aber ich kann nicht, ich habe echt die Hosen voll.«
Schließlich nickt sie und sieht mich verständnisvoll an. »Na schön. Wenn du es aber doch noch versuchen willst, dann komm einfach zu uns rüber.«
»Ja, das mache ich.«
Als ich mich von der Szene abwende, begutachte ich die Panels. Eine ganze Weile betrachte ich sie, lasse dann den Blick schweifen, und entdecke ihn. Einen Jungen, der auf der gegenüberliegenden Seite an der Scheibe steht und zu mir herüberblickt. Er hat eine breite Statur, seine Augen sind blau, unglaublich blau, und seine Haare dunkel, fast schwarz und leicht verstrubbelt. Er trägt eine ebenfalls schwarze Lederjacke. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich schaffe es nicht, den Blick von ihm abzuwenden und mein Puls beginnt, schneller zu werden.
Als sich eine Hand auf meine Schulter legt, schrecke ich auf, und unwillkürlich schießt mir die Hitze in die Wangen.
»Erwischt«, raunt Jill mir grinsend ins Ohr. »Was gibt es denn da so Interessantes?«
»Nichts. Ich war nur in Gedanken.« Erneut blicke ich zu dem Jungen, doch nun ist er weg. Stattdessen steht da ein anderer Junge mit einem blauen Hemd und hellen Haaren, der etwas grimmig schaut. Ein weiterer Guide vielleicht? Als er merkt, dass ich in seine Richtung sehe, verändert sich sein Blick, seine Mimik wird weicher, und er lächelt mich an. Ob er glaubt, dass ich ihn angestarrt habe? Für ihn muss es jedenfalls so gewirkt haben.
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