Dag Solstad
16. 7. 41
Roman
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger
DÖRLEMANN
Die norwegische Originalausgabe erschien unter dem Titel »16. 07. 41« im Forlaget Oktober A/S in Oslo.
Die Übersetzung des Romans wurde vom Deutschen Übersetzerfonds e.V. sowie von NORLA unterstützt.
Die Übersetzerin und der Verlag bedanken sich hierfür.
eBook-Ausgabe 2020
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Copyright © Forlaget Oktober A/S, Oslo
Copyright © 2020 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf
Porträt Seite 5: Dag Solstad, © Tom Sandberg
Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-90877-881-3
www.doerlemann.com
Dag Solstad
Dieses Mal werde ich fliegen.1 Deshalb befand ich mich im mittlerweile stillgelegten Flughafen Fornebu bei Oslo, um mit einer SAS-Maschine nach Kopenhagen zu reisen und von dort weiter nach Frankfurt am Main. Das liegt jetzt mehr als zehn Jahre zurück, und wie immer, wenn ich flog, war ich ungewöhnlich früh am Flughafen. Ich wollte nach Frankfurt, zur großen internationalen Buchmesse, um dort an einer Veranstaltung mitzuwirken. Ich sollte nur wenige Tage weg sein und hatte deshalb lediglich Handgepäck dabei, trotzdem war ich ungewöhnlich früh dran. Wenn ich mich heute vor mir sehe, wie ich damals vor mehr als zehn Jahren ausgesehen haben muss, ich war noch keine fünfzig, gibt es nicht viel, was ich als besonderes Kennzeichen meiner Person anführen kann.1b Ich war damals wie heute ein normaler Reisender, erfüllt mit den selbstbewussten Routinen eines Reisenden. Ich stellte mich in die lange Schlange an den Check-in-Schaltern und schob mein Handgepäck, eine Reisetasche, sanft mit dem Fuß weiter, während sich die Schlange vorwärtsschob. Schließlich war ich an der Reihe. Ich legte meine Tickets vor und erhielt die Bordkarte sowohl für den Flug nach Kopenhagen als auch für den Anschlussflug von Kopenhagen nach Frankfurt. Danach fuhr ich mit der Rolltreppe hoch zur Pass- und Sicherheitskontrolle. Nachdem ich diese erfolgreich hinter mich gebracht hatte, durfte ich in die internationale Abflughalle und stellte mich vor eine Departure-Anzeigetafel, auf der mein Flug nach Kopenhagen soeben aufgetaucht war. Ich notierte mir das Gate und schaute in einen langen Korridor, versuchte abzuschätzen, wie weit darin sich mein Gate befinden musste. Daraufhin suchte ich den Dutyfree-Shop auf und kaufte mein Kontingent an Schnaps und Zigaretten, das ich in eine Plastiktüte mit Werbung für Fornebu Taxfree packte, wie sie auch viele meiner Mitreisenden bei sich trugen.
Mir blieb noch fast eine Stunde bis zum Abflug, und ich beschloss, mich langsam zum Gate zu begeben, fast so als wollte ich mich vergewissern, dass es sich auch dort befand, doch erst nachdem ich noch einmal auf der Anzeigetafel nachgeschaut hatte, ob ich mir wirklich das richtige Gate eingeprägt hatte. Anschließend genehmigte ich mir in einem kleinen Café, das sich in der internationalen Abflughalle am Flughafen Fornebu befand, eine Tasse Kaffee. Wieder zurück zur Anzeigetafel, um sicherzugehen, dass es keine Änderungen bei den schon angezeigten Informationen gegeben hatte. Danach setzte ich mich auf einen leeren Sitz in einer der Stuhlreihen, die sich an den Wegen der internationalen Abflughalle befanden. Ständig eilten geschäftige Reisende an mir vorbei, manche auf dem Weg zum Flieger, andere auf dem Weg vom Flieger Richtung Ankunftshalle. Ich fühlte mich gut, rastlos und bester Stimmung. Ich genoss tatsächlich den Anblick meiner Mitreisenden und den Umstand, dass ich mich in der Abflughalle eines Flughafens befand, der zwar in einem Land lag, dessen Behörden ihn für zu klein erachteten, der für mich jedoch groß genug war. Das Dasein hier hatte etwas Beherrschtes an sich, zwar passierte ständig etwas, permanent landeten oder starteten schließlich Flugzeuge auf der Rollbahn und mit ihnen Passagiere, die herein- oder hinausströmten, trotzdem hatte die Geschäftigkeit etwas Gemessenes und Beherrschtes, das mir gefiel. Die Strukturen sind klar zu erkennen. Die Entschlossenheit der Leute ist strukturiert. Jeder, der hier ist, weiß, warum er hier ist, sein Reiseziel ist klar, und auch der Grund für seine Reise. Will man z.B. nach Rom, dann weiß man nicht nur, wie man zum richtigen Zeitpunkt zum richtigen Gate gelangt, es ist auch vollkommen offensichtlich, ob man geschäftliche Gründe hat, zu einem Kongress will oder eine kurze Urlaubsreise macht. Das prägt die Stimmung. Zwar kann man einer Person nicht ansehen, ob sie nach Rom oder Zürich will, man kann aber sehr klar erkennen, ob sie auf Geschäftsreise oder auf einer Urlaubsreise ist. Man ist entsprechend gekleidet und benimmt sich entsprechend. Hält man sich in einem der Geschäfte in Fornebu auf, ob im Delikatessenladen oder im Trachtenladen, dann, um etwas zu kaufen. Man will ganz einfach ein Geschenk erstehen, das man längst hätte besorgen sollen, aber entweder vergessen hat oder aus Zeitmangel nicht beschaffen konnte, und in Fornebu heißt das, einen kleinen Troll, eine Strickjacke im Norwegermuster oder ein großes Stück Räucherlachs, vakuumgezogen und mit Norwegian Seafood oder etwas anderem Plausiblen beschriftet. Eine effektive Welt mit Human Touch. Ein Herz für seine Liebsten, in letzter Sekunde freilich, aber immerhin: ein Herz. Norwegian Seafood, ein Stück Human Touch. Das ging mir durch den Kopf, als ich dort saß und den Leuten in den Geschäften zusah, die schnell und teuer einkauften. Der Unterschied zwischen einem internationalen Flughafen und anderen modernen Treffpunkten, wie z.B. einem Kaufhaus, ist riesig. In einem Flughafen sind alle Handelnde, in einem Warenhaus gibt es sehr viele Betrachter oder Flaneure, die sich lediglich umschauen, ohne bestimmten Grund, man saugt die Atmosphäre von Modernität in sich auf, könnte man sagen, ohne notwendigerweise Teil derselben zu sein, außer als entzückter und bewundernder Zuschauer. Auch zwischen internationalen Flughäfen und Bahnhöfen ist der Unterschied riesig. Nun haben die großen Bahnhöfe ja den Nimbus der Modernität eingebüßt, der ihnen bis Ende der 1930er-Jahre anhaftete, und das verleiht ihnen etwas von einer ausrangierten Zeitmaschine, schön, aber verfallen, fast schon Schrott, daher kann der Vergleich zwischen Bahnhöfen und unseren heutigen Reise- und Abenteuermaschinen – Flughäfen, Flugplätzen – ungerecht wirken, trotzdem sind beide nach wie vor moderne Treffpunkte, und man kann bei ihnen immer noch eine Reihe typischer Ähnlichkeiten feststellen, die mit dem Reisen zu tun haben, dem Reisegefühl, den Reiseerwartungen, dem Reisefieber, und doch kann man in allem, was sie voneinander trennt, die Eigenheiten beider Bahnhofstypen erkennen (und jetzt spreche ich von Flughäfen und Flugplätzen ebenfalls als Bahnhöfen, denn das sind sie ja, Luftbahnhöfe), als Spiegel zweier Epochen. Hierbei denke ich an Abschiedsszenen. An Bahnhöfen kann man den menschlichen Touch in Abschiedsszenen erkennen. Er wurde von ihr zum Zug begleitet, sie verabschiedet sich von ihm. Eine rührende Szene. Heftige Umarmung, innige Küsse. Anschließend geht er in den Waggon, sucht seinen Platz, sie steht draußen auf dem Bahnsteig, er macht das Fenster auf, der Zug fährt an, er ruft und winkt, sie winkt zurück, ja, es kommt sogar vor, dass sie sich zusammen mit dem Zug in Bewegung setzt, vielleicht sogar ein Stück neben ihm herläuft, bevor der Zug unerbittlich davonfährt und sie stehenbleiben muss, und er, der sich in seinem Abteil aus dem Fenster lehnt, sieht ihr hinterher, wie sie immer kleiner wird, bis sie, als der Zug in eine Kurve oder einen Tunnel fährt, endgültig verschwindet.
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