Fußnote 3.
Andere können das ganz anders sehen. Völlig andere Vorstellungen haben, obwohl wir uns auf dieselben Choräle und Bilder berufen. Für die Schwester meines Vaters, Tante Elise, waren die Straßen im Himmel aus Gold. Der Himmel war in meinem Elternhaus ein Gesprächsthema, z.B. sonntags beim Essen. Ich weiß noch, dass Tante Elise sagte, im Himmel seien die Straßen aus Gold. Tante Elise war halbblind, sie nahm die Umgebung nur als vage Schatten wahr, das war seit ihrer Kindheit so. Sie arbeitete nicht, blieb ein Leben lang zu Hause, zunächst bei ihren Eltern, später wohnte sie bei ihrem jüngeren unverheirateten Bruder. Sie kam im Alltag gut zurecht, bei der Hausarbeit, beim Kochen etc., mit fest einstudierten Routinen, aber sie war halbblind und konnte nichts sehen. Ich weiß noch, dass sie sagte, im Himmel seien die Straßen aus Gold. Bei einem Sonntagsessen, ich war ein kleiner Junge von sechs oder sieben Jahren und hörte, wie Tante Elise verkündete, im Himmel seien die Straßen aus purem Gold. Das klang toll, und sie wirkte stolz dabei, aber mein Vater widersprach ihr. Mit welcher Begründung er ihr widersprach, weiß ich nicht mehr, oder ich habe nicht darauf geachtet, aber er widersprach ihr, und Tante Elise war gekränkt. Sehr gekränkt, so gekränkt, dass ich mich heute noch, mehr als fünfzig Jahre später, daran erinnere. Rechthaberisch und zutiefst verletzt wiederholte sie, im Himmel seien die Straßen aus Gold. Es entspann sich eine Diskussion, an die ich keine Erinnerung mehr habe und an der ich selbst natürlich nicht beteiligt war. Vielleicht saß ich nicht einmal mit am Tisch, sondern darunter, wo ich so tat, als sei ich ein kleiner Hund, das machte ich gern, wenn es zum Essen Koteletts gab, und das war sonntags oft der Fall, dann saß ich unter dem Tisch und nagte an einem Knochen und tat so, als wäre ich ein kleiner Hund, doch sollte ich heute das Wort ergreifen, dann um Tante Elise beizuspringen. Die Straßen im Himmel sind aus purem Gold. Vieles spricht dafür, dass Tante Elise sich mehr mit dem Himmelreich und dem ewigen Leben beschäftigt hat als andere. Denn dort würde sie etwas sehen können. Hier war sie halbblind, dort würde sie sehen können. Es gibt viele Erzählungen, wonach die Straßen im Himmel aus Gold seien, sie kann in unautorisierten Kirchenliedern davon gehört haben oder in den euphorischen Predigten der Prediger über die himmlische Pracht, und sie hat die Worte in sich aufgesogen. Vor ihrem inneren Auge konnte sie den Himmel sehen. Die Straßen dort oben seien aus Gold, wusste sie zu berichten, und sie konnte nicht verstehen, wie ihr jemand in diesem Punkt widersprechen konnte.
Glaubte sie auch, sie würde dort oben mit ihrem Geliebten wiedervereint? Das kann gut sein, obwohl ich kaum glauben kann, dass von denen, die an diesem Sonntagnachmittag am Esstisch saßen und meine Familie ausmachten, jemand sein Leben unter dieser Prämisse lebte. Ich kann nämlich bei mir selbst nicht den Hauch einer solchen Vorstellung finden, und hätten sie unter dieser Prämisse gelebt, wären gewiss Fragmente davon in mich als kleines Kind eingesickert und hätten sich festgesetzt. Tante Elise war es, die am Tag, als mein Vater zum letzten Mal ins Krankenhaus von Tønsberg eingeliefert wurde, bei ihm war. Meine Mutter war bei der Arbeit gewesen, als Verkäuferin in Tønsberg, und Tante Elise war gekommen, als es meinem Vater nicht gutging. An diesem Tag fand sie, ihrem Bruder gehe es so schlecht wie nie zuvor, weshalb sie nach einem Arzt schickte, der dann einen Krankenwagen rief. Ich war nicht zu Hause, ich war nach draußen gegangen, als ich die sorgenvolle Stimmung bemerkte, und erst zurückgekommen, nachdem der Krankenwagen weggefahren war. Aber ich frage mich, ob sie sich von ihrem Bruder verabschiedet hat, der in einem Dämmerschlaf lag und kaum hören konnte, was sie sagte, sodass sie nicht befürchten musste, ihn zu ängstigen, wenn er begriff, dass sie in der Nacht mit seinem Tod rechnete, weshalb sie zum Abschied, als Trost und zur eigenen Beruhigung, gesagt haben könnte: Wir sehen uns im Himmel. Sagte sie das? Das kann ich schwerlich glauben, zumindest dass sie es laut sagte, sodass der Arzt und die Sanitäter und Frau Sørlie es hören konnten, denn das hätte bedeutet, dass sie etwas offen aussprach, was ich mir schwerlich vorstellen kann, wenn es jedoch so war, dass sie ihr Lebwohl zum Abschied laut und vernehmlich aussprach, glaubte sie dann selbst daran, im wörtlichen Sinne des Ausspruchs? Das bezweifle ich, ich kann nicht anders, ich kann unmöglich nicht daran zweifeln, dass sie selbst an das Gesagte geglaubt haben könnte. Denn wenn sie daran glaubte, sodass sie es laut und vernehmlich sagen konnte und nicht nur insgeheim flüstern, dann wäre das Leben ein anderes und auch die Gesellschaft wäre völlig anders organisiert, was wir uns schwerlich vorstellen können.
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