Weiter konnten meine Himmelsvorstellungen nicht gehen. Näher werde ich meinem verstorbenen Vater niemals mehr kommen, wenn ich ihn mir in Gestalt eines Engels denke. Eigentlich bin ich schon zu weit gegangen. Ich habe eine Lücke in meinem Bewusstsein gefunden und sie genutzt oder ausgenutzt, um mir Zugang zur Ewigkeit zu verschaffen, für einen kurzen Augenblick, weil ich meinen Vater auf diese Weise wiedersehen wollte. Ohne ein Wort zu wechseln, ich wollte ihn nur dort auf seiner Wolke sehen und selbst auf einer anderen Wolke in großer Entfernung an ihm vorbeischweben. Ich hätte mich jedoch mit dem ersten und einzigen Anblick vor meinem Fenster zufriedengeben können, während ich dort im Flugzeugrumpf saß. Ich hätte nicht hinausgehen sollen, in die Ewigkeit, nicht einmal in meiner Vorstellung. Ich gebe zu, dass es mir hinterher Angst eingejagt hat, es ist mehr als zehn Jahre her, aber ich wache nachts oft auf, weil ich im Traum dem Tod einen Besuch abgestattet habe, was zweifellos daran liegt, dass ich seinerzeit eine Lücke in meinem Bewusstsein ausnutzen konnte, um einen kurzen Sprung in die Ewigkeit zu wagen. Doch als es geschah, hatte ich keine Alternativvorstellungen. Ich war so ergriffen von meinen eigenen Himmelsvorstellungen, dass ich diese Ergriffenheit mit einem Unschuldszustand verwechselt haben musste, denn alles, was ich mir vorstellte, machte mich überirdisch glücklich. Nicht allein, dass ich meinen Vater in einem Engel mit herabhängenden Flügeln und einer Posaune in den Händen, der auf einer kleinen Wolke tief unter mir saß, erkannt hatte. Es dauerte trotz allem nur eine winzige Sekunde, bevor neue Traumgesichte vor mir auftauchten und ich mich von ihnen in den Bann schlagen ließ, ohne weitere Versuche zu unternehmen, meinen Vater wiederzufinden. Doch ständig tauchten neue Wolkenformationen auf und appellierten an meine Vorstellungskraft. Alles, was ich sah, erschien mir wie ein Kirchenlied. Ich sah die geheimsten Hoffnungen der Menschheit. Ich sah Zeichen der Gnade und deutliche Bilder der Erlösung. Ich sah Engel, die ganze Zeit über sah ich Engel, Scharen von Engeln. Erneut sah ich den Löwen und das Lamm, jetzt in rosa Licht getaucht. Ich sah Fabelwesen. Den Thron und den Himmelswagen, alles, was besungen worden ist, und alles, was zu Bildern verarbeitet worden war, ich sah große allegorische Prozessionen, die sich über die luftigen Federbetten der großen Wolken bewegten, ich erkannte den Wolkenschleier, der sich in Nichts auflöste, und ich erdreistete mich, nach Gottes Thron Ausschau zu halten. Sah ich Gottes Thron? Ja, ich denke schon, ich konnte Gottes Thron und die Scharen, die drum herum versammelt waren, gut erkennen. Doch Gott selbst sah ich nicht, er war für mich nicht anwesend. Ja, ich sah Gottes Thron, obwohl er nicht leicht zu finden war, er stand ein wenig verdeckt in einem Wolkenberg, und ich hätte ihn durchaus für etwas anderes halten können, z.B. für einen Himmelswagen, Glied einer der unzähligen Prozessionen, von denen der Himmel so voll sein soll und die ich oft auf Glasmalereien und Tafeln in Kathedralen uralter europäischer Städte abgebildet gesehen hatte. Ich sah alle gemalten Bilder und alles, was gesagt war, und ich war sehr dankbar für all die Bilder, die ich gesehen hatte, und alles, was ich gelesen hatte und was unvergessen ist, wie ich weiß, obwohl ich ebenfalls weiß, dass ich keine Chance habe, Gott in meinen Himmelsvorstellungen zu entdecken, aus Gründen, die für jedermann offensichtlich sind.3 Ich befand mich in einem Flugzeug, in einer Art himmlischem Vogelkörper, und schaute hinaus. Wie lange kreisten wir schon über der Wolkendecke oberhalb von Frankfurts Flughafen? Ich weiß es nicht, ich hatte längst den Kontakt zur Zeit verloren, wie ich in Gedanken versunken dasaß und hinausschaute. Ich war so absorbiert von meinen Himmelsvorstellungen, dass mir nicht einmal aufgefallen war, dass es dunkel wurde, noch dazu in jenem Raum, der Schauplatz meiner überirdischen Vorstellungen war. Doch auf einmal durchflogen wir die kompakte Wolkendecke und waren kurz darauf auf der anderen Seite und konnten die nackte Erde erblicken. Mit Gebrüll stürzten wir uns durch die Wolkendecke in Richtung der dampfenden Felder, Wälder, Häuschen und des Straßennetzes unter uns. Eine Stimme im Lautsprecher verkündete, dass wir nun zur Landung ansetzten. Unter den Flügeln wurden die Räder ausgefahren, wir flogen ziemlich dicht über den Boden und kamen im diffusen Licht der Dämmerung in eine große Stadt. Ich erblickte einen riesigen blinkenden Betonturm, der links von mir in die Luft ragte, und direkt unter mir befand sich ein großer Park, der aussah, als würde er sich über große Gebiete mitten in der Stadt erstrecken, eine breite Avenue führte durch ihn hindurch, in der alle Straßenlaternen brannten, aber mit einem bemerkenswert gedämpften, ja, schwachen Licht. Mitten auf dieser Avenue befand sich ein offener Platz mit einer angestrahlten vergoldeten Säule. Der Flughafen lag quasi im Zentrum, wie es schien, denn kurz darauf setzten wir mit einem schweren Dröhnen auf, und das Flugzeug drosselte nach und nach das Tempo, bis es schließlich zum Stehen kam. Eine Stimme im Lautsprecher bedauerte den Vorfall, hieß uns aber dennoch in Berlin willkommen. Wir sollten das Flugzeug verlassen und in der Eingangshalle auf weitere Anweisungen warten. In dem Moment begriff ich, dass das Flugzeug aus irgendeinem Grund nicht auf dem Frankfurter Flughafen landen konnte, sondern weiter nach Osten geflogen war, nach Berlin, doch hatte ich, der ich von dem, was ich schon jetzt meine Himmelsvorstellungen nannte, absorbiert gewesen war, nicht mitbekommen, was sicherlich längst bekanntgegeben worden war. In der Eingangshalle warteten wir zwei Stunden, und da der Frankfurter Flughafen weiterhin geschlossen war, bekamen diejenigen von uns, die es wünschten, eine Hotelübernachtung in Berlin angeboten oder eine Weiterreise nach Frankfurt mit dem Zug. Da sich das Ziel meiner Reise, die Teilnahme an einer Literaturveranstaltung auf der internationalen Frankfurter Buchmesse, die heute Abend stattfinden sollte, nicht mehr realisieren ließ, beschloss ich, in Berlin ins Hotel zu gehen. Es war mein erster Besuch in Berlin.
Fußnote 1.
»Wie immer bin ich derjenige, der das hier schreibt. Doch wer ist derjenige, der sich in der internationalen Abflughalle des Flughafens Fornebu befindet, um mit einem SAS-Flug nach Frankfurt am Main zu reisen? Ich bin derjenige, der schreibt. Ich, der das hier schreibt, sage, der Mann am Flughafen ist derjenige, der schreibt. Also ich. Mein ›nacktes‹ Ich. Ich denke zurück an mich in Fornebu an einem Oktobertag 1990 und schreibe diesen Text. Das liegt jetzt mehr als zehn Jahre zurück.«
So lautete der ursprüngliche Einstieg ins Buch, der aber nicht zum eigentlichen Einstieg wurde, sondern zum verworfenen Versuch eines Einstiegs, wenngleich dem ersten in einer ganzen Reihe. Was ich damit erreichen wollte, war eine deutliche zeitliche Kluft zwischen mir, dem Schreibenden, und mir, dem Ich im Text. Das schreibende Ich ist nicht identisch mit dem handelnden Ich, obwohl beide Schriftsteller sind und auch Dag Solstad heißen, es ist derselbe Name, der als Autor auf dem Titelblatt dieser Erzählung stehen wird. Dieser Einstieg ermöglichte es mir, Dinge wie diese zu schreiben:
Fußnote 1b.
»Ich war damals wie heute ein gewöhnlicher Reisender, ausgestattet mit der selbstbewussten Achtsamkeit des Reisenden und ohne Bewusstsein dafür, dass eine Reihe ereignisreicher Jahre vor mir lagen, was dem jetzt schreibenden Ich hingegen vollkommen bewusst ist. Zu diesen Jahren gehören beispielsweise eine Reihe bemerkenswerter Ereignisse im privaten Bereich, aber auch die Tatsache, dass ich in der vor mir liegenden Zeit, von jenem Zeitpunkt an, als ich in Fornebu stand, bis zu dem Augenblick, in dem das hier geschrieben wird, vier neue Romane schreiben sollte, die noch nicht ausgebrütet waren, nicht einmal als vage Idee, ja nicht einmal als Ahnung, sie befanden sich damals völlig außerhalb meiner Vorstellungskraft, sie waren nicht einmal zu denken, wohingegen sie jetzt geschrieben sind und ein wichtiger Teil meiner Identität. Wenn ich damals Vorstellungen von meiner Zukunft hatte, waren sie wohl eher darauf gerichtet, dass ich in ein paar Jahren meinen fünfzigsten Geburtstag feiern sollte und was das für mein Leben bedeuten würde. Jetzt ist derjenige, der schreibt, sechzig.«
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