»Stopp«, kreischte eine Stimme, die unverkennbar ihrer Freundin gehörte. »Keinen Schritt weiter, wenn du dir nicht die Überraschung deines Lebens versauen willst.«
»Ich wollte dich eigentlich nur vor einem qualvollen Hitzetod retten«, lachte Malu. »Wie hältst du es in diesem Backofen nur aus.« Das T-Shirt klebte ihr schon unangenehm am Rücken.
Ein Kopf mit zwei blonden Zöpfen und Beanie (auch das noch!) erschien zwischen den Farnwedeln. »Als Künstlerin muss man eben Opfer bringen«, säuselte Lea. »Du wirst sehen, mein Modelabel wird das ganz große Ding!«
»Ist klar«, grinste Malu. »Aber so ein Sprung in den See zwischendurch erfrischt den Geist.«
»Du weißt ja, ich hab’s nicht so mit Wasser.« Lea schüttelte unwillig den Kopf.
»Immerhin hast du dich mal für einen Tauchkurs angemeldet«, erinnerte Malu sie.
Ihre Freundin verzog das Gesicht. »Erinner mich nicht daran. Keine Ahnung, was da mit mir los war.«
»Hmm, mal überlegen.« Malu machte ein Gesicht, als würde sie angestrengt nachdenken, dann plinkerte sie mit den Augen. »Lag es vielleicht an Henri, dem gutaussehenden Neffen des Tauchlehrers?«
»Kann sein«, lachte Lea, packte ihre Freundin an der Schulter und drehte sie um. »So, und jetzt ab mit dir. Ich bin gleich fertig, dann komm ich nach. Ich sag nur so viel: Du wirst staunen!«
»Beeil dich, wenn du nicht willst, dass ich vor Neugier sterbe«, rief Malu über die Schulter und schlüpfte unter den riesenhaften Blättern und hängenden Orchideen zurück zum Ausgang.
»Gib mir was zu essen oder ich muss dich fressen!«, kreischte da plötzlich eine Stimme in ihrem Rücken. Malu fuhr herum, doch im selben Moment war ihr klar, wer sie da bedrohte. »Rosa, wie kannst du mich nur so erschrecken.« Der rosafarbene Kakadu ihrer Großtante Gesine saß gut getarnt zwischen pinken Hibiskusblüten und brabbelte vergnügt vor sich hin, als Malu ihm zur Begrüßung die Halsfedern kraulte.
»Essen oder fressen«, wiederholte der Vogel vergnügt.
»Ich hab doch immer was für dich dabei.« Malu griff in ihre Hosentasche und holte ein paar Sonnenblumenkerne heraus. Die hatten für Rosa ungefähr den gleichen Stellenwert wie für sie selber Gesines köstlicher Himbeerkuchen.
Der Kakadu packte einen Kern nach dem anderen mit der Kralle und knabberte den Innenteil heraus. »Wo hast du denn Gesine gelassen?«, fragte Malu, ohne ernsthaft eine Antwort zu erwarten. Oder höchstens vielleicht ein Die ist an einem anderen Ort – für immer ewig fort. Rosa hatte schon Gesines Vater gehört, dem alten Baron Funkelfeld, der ihr jede Menge merkwürdiger Gedichte beigebracht hatte, die meist von Tod und Verderben handelten.
Plötzlich raschelte es in dem großblättrigen Strauch hinter dem Hibiskus und dann schob sich das Gesicht ihrer Großtante unter den Blättern hervor. »Hallo Malu, was machst du denn hier?«
»Ich wollte Lea zu einer kleinen Schwimmrunde überreden.«
Gesine lachte glucksend. »Da hattest du wohl keinen Erfolg, was? Deine Freundin sitzt schon seit heute Morgen an der Nähmaschine und tut sehr geheimnisvoll.« Sie krabbelte aus dem Busch und richtete sich mühsam auf. »Mein Rücken ist auch nicht mehr der beste.«
»Was machst du denn da unten?«, fragte Malu neugierig.
Gesine wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich brauchte einfach mal Ruhe von dem ganzen Hoteltrubel da drüben und wollte hier im Dschungel schön die Füße hochlegen.«
»Mitten im Busch?«
Ihre Großtante schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, mir fiel plötzlich ein, dass die Bewässerungsanlage nicht mehr richtig funktioniert und das habe ich mir gerade mal angesehen. Aber das kriege ich wieder hin, ich hol nur eben mein Werkzeug.«
»So viel zum Thema Füße hochlegen«, griente Malu.
»Ach was, still sitzen kann ich im Grab«, winkte die alte Frau ab.
»Wenn du Hilfe brauchst, sag mir Bescheid, ich bin mit den Pferden am See«, bot Malu an und strich Rosa zum Abschied übers Gefieder.
»Dunkle Jahre, schwarze Tage«, brabbelte der Kakadu beleidigt, er hätte wohl lieber noch ein paar Sonnenblumenkerne bekommen.
Während Papilopulus und Schneechen brav gewartet hatten und Malu mit einem erfreuten Schnauben begrüßten, war Alibaba mit ihrem Fohlen verschwunden. Die zwei waren bestimmt schon zum See gelaufen.
»Ja, ich freu mich auch, euch zu sehen. Jetzt geht es ab ins kühle Nass.« Malu löste den Führstrick von Papilopulus’ Halfter und dann zockelten die beiden Pferde hinter ihr den dicht bewachsenen Pfad entlang zur Seewiese.
»Arschbombe!«, hörte sie ihren Bruder schon, bevor sie ihn sehen konnte. Dann ein lauter Platscher, gefolgt von Gelächter und Gejohle.
»Platz da! Jetzt komm ich«, grölte eine andere Jungenstimme. Vincent. Kalles Sohn gehörte inzwischen so fest zu ihnen, dass Malu sich kaum daran erinnern konnte, wie es ohne ihn gewesen war (wollte sie auch gar nicht!). Dabei war es gerade mal vier Wochen her, dass er zu seinem Vater Kalle Koslowski in die kleine Wohnung über dem Pferdestall gezogen war. Kalle hatte bei der Renovierung des Schlosses als Handwerker mitgearbeitet und war geblieben, um die letzten Reparaturen zu erledigen, die immer noch andauerten. Wenn sie daran dachte, wie bescheuert sie Vincent anfangs gefunden hatte, mit seinem ewig griesgrämigen Gesichtsausdruck! Allerdings war sie zu der Zeit auch nicht gerade die Fröhlichkeit in Person gewesen (pubertäre Stimmungsschwankungen nannte ihre Mutter das). Aber seit ihrem gemeinsamen Abenteuer mit Luca und Tornado* und der Aussprache mit seinem Vater war Vincent wie ausgewechselt. Es fühlte sich für Malu fast so an, als hätte sie zwei Brüder. Malu grinste, dabei hatte sie vor einem Jahr noch nicht mal einen gehabt – jedenfalls hatte sie bis dahin nichts von Edgars Existenz gewusst. Es kam ihr vor, als wäre es ein komplett anderes Leben gewesen.
Als sie den letzten großen Haselnussstrauch vor dem Seeufer umrundet hatte, staunte sie wie jeden Tag über den wunderbaren Anblick, der sich ihr bot. Die Wasseroberfläche des Funkelsees glitzerte wie mit Diamanten übersät in der Sonne. Und mittendrin lag die Pferdeinsel. Der Name stammte noch aus der Zeit des alten Barons, als die Stuten mit ihren Fohlen dort hingebracht wurden, damit sie den Sommer über ungestört waren.
Nur die beiden kreischenden Jungs, die versuchten sich gegenseitig unter Wasser zu ducken, störten das idyllische Bild ein wenig. Lapislazuli stand am Ufer, ganz in der Nähe des Holzstegs, und betrachtete das Schauspiel neugierig. Wahrscheinlich würde sie am liebsten mitmachen, dachte Malu, während sie über die Wiese schlenderte.
Neben Alibaba stand noch ein weiteres Pferd am Seeufer – Rocco, der Schimmel ihres Bruders, den er von seinem Opa geerbt hatte. Vor zwei Tagen hatte Rocco plötzlich angefangen zu lahmen und der Tierarzt Dr. Wellhorn hatte ein Hufgeschwür diagnostiziert, das geöffnet werden musste (ziemliche eklige Angelegenheit!). Seitdem ließ Edgar sein Pferd nicht mehr aus den Augen. Dreimal am Tag musste er die Wunde desinfizieren und neu verbinden. Aber inzwischen hatte Rocco zumindest keine Schmerzen mehr und Dr. Wellhorn meinte, dass er wieder völlig gesund werden würde.
Nachdem Malu Papilopulus das Halfter abgenommen hatte, lief er hinter Schneechen her zum Ufer. Der alte Wallach machte sogar einen kleinen Hüpfer vor Freude. Seit Malu ihn letzten Herbst in den See gelockt hatte, als es ihm so schlecht gegangen war, dass der Tierarzt ihm Physiotherapie im Wasser verschrieben hatte, liebte Papilopulus den See. (Zum Glück, schließlich hatte er ihr so schon einmal das Leben gerettet.)
»Komm rein, Malu. Wir warten auf dich«, schrie Vincent und schüttelte seinen Kopf, dass das Wasser von seinen halblangen schwarzen Haaren in alle Richtungen spritzte.
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