Gemeinsam gingen sie langsam die in Stein gehauenen Straßen zurück zu ihrem Haus. Steve fiel auf, dass ihm nach und nach nicht nur die Schmerzen und die Gefühle Adamos zuteilwurden, sondern auch seine Erinnerungen. Vielleicht müsste er Jolanda gar nichts fragen.
Von Minute zu Minute wurde sein Wissen erweitert. Adamo war Steinmetz – das wusste Steve schon. Adamo liebte seine Frau. Sie kannten sich schon, seit sie Kinder waren. Beide waren mit ihren Familien aus Norditalien in den Süden gekommen, genauer nach Otranto, um dort ein neues Leben anzufangen.
Er war etwa zehn Jahre alt gewesen, als es einen Angriff des türkischen Sultans Mehmed II., auch Mehmed der Eroberer, gegeben hatte. Es war der 11. August 1480, als Jolandas und Adamos Eltern bei einem osmanischen Angriff sterben mussten. Beide Kinder waren versklavt worden. Wie durch ein Wunder hatten sie sich in der Gefangenschaft wiedergefunden und konnten fliehen – vier Jahre später.
Adamos Erinnerungen flogen an Steve vorbei. Mit einem Mal überfiel ihn tiefe Trauer. Er sah Adamos kranke Ehefrau, er sah einen toten Säugling. Und neuer Schmerz, der Schmerz des Verlustes. Jolanda lag im Sterben, während Männer und Frauen um ihr Bett herum die Köpfe schüttelten. Auch ein Geistlicher war da. Dann bäumte sich Jolanda auf. Sie keuchte schwer. Alle Muskeln spannten sich gleichzeitig an, sie riss die Augen auf und schrie. Hektisch schaute sie sich um, sagte auf Deutsch: »Wo bin ich?« Der Pater war verblüfft, wollte mit Adamo sprechen. Steve sah, wie Adamo sich über Jolanda beugte, überglücklich, dass sie lebte. Flüsterte er ihr etwas zu?
Diese Bilder waren nicht klar. Steve erinnerte sich aber an einen anderen Tag, als der Priester mit Adamo geredet hatte. »Sie hat mit fremder Zunge gesprochen. Du musst das genau beobachten. Denke bloß, wenn sie besetzt ist!«
»Es ist ein schweres Trauma, das sie plagt. Sie hat ihr Kind verloren, unseren Sohn.«
»Was sie offensichtlich vergessen hat …«
»Sie ist meine Frau, und ich liebe sie. Ich lasse nicht zu, dass Ihr schlecht über Jolanda sprecht.« Erbost hatte Adamo damals den Priester stehen lassen.
Jolanda und Adamo waren inzwischen fast an ihrem Haus angekommen.
»Er ist wieder hier, Jolanda«, murmelte Adamo, so gut es seine dicke Backe zuließ. »Ich spüre ihn. Er ist in meinem Kopf.«
»Was meinst du?«
»Dieser Steve, wie du ihn immer nennst.« Dabei tropfte Blut aus Adamos Mund. Steve zuckte innerlich zusammen, irgendwie fühlte er sich ertappt. Wie ein Spanner, der ungebeten ein fremdes Leben beobachtete.
»Steve, ich weiß, dass du da bist«, sagte Adamo laut, »und ich danke dir, dass du mir die Zahnschmerzen genommen hast. Tut’s sehr weh?«
Das klang schon beinahe sarkastisch, aber Adamo hatte recht. Die Schmerzen hatte er gespürt. Gut möglich, dass Adamo davon nicht viel mitbekommen hat.
»Ich … ich habe keine Ahnung, warum ich hier bin«, stammelte Steve aus Adamos blutigen Mund.
Jolanda wirkte verunsichert. Sie konnte im Moment sicher nicht klar unterscheiden, wer gerade zu ihr sprach. Adamo blieb vor ihrem Haus stehen. »Siehst du? Ich habe recht.« Steve fragte sich, wie das auf Jolanda wirken musste, wenn zwei Männer mit einer Stimme aus einem Mund sprachen.
»Dann mache ich euch beiden mal eine kräftige Suppe«, sagte Jolanda lächelnd. Sofort ging sie Richtung Haus, verdrehte dabei ein wenig die Augen.
Adamo saß am Küchentisch, als Jolanda eine Schale brachte.
»Den Priester muss ich schon seit Tagen belügen«, murmelte Adamo. »Er möchte dich einer Austreibung unterziehen, Jolanda …«, Adamo fixierte ihre Augen, »… oder soll ich Julia sagen?«
Steve konnte alles sehen, spüren und hören. Beim Namen Julia wurde er stutzig. Ihm war keine Julia bekannt.
»Hörst du, Steve?« Adamo wurde energischer und drehte dabei die Augen, als ob er in sich hineinsehen und dabei lauter sprechen müsste.
»Versuch, ruhig zu bleiben, Adamo«, bat die Frau, die Julia genannt wurde. »Alles wird wieder gut. Du wirst deine Jolanda wiederbekommen. Ich spüre ihre Anwesenheit, so wie du jetzt Steve spürst«, sagte sie und hielt Adamos Hand.
»Pater Matteo behauptet, Jolanda sei vor drei Monaten mit unserem Kind von uns gegangen. Ein böser Geist wäre jetzt in Jolandas Hülle.«
»Matteo ist ein böser Geist.«
»Ich will dir ja glauben. Ich will nur, dass dieser Steve alles wieder richtet und mir meine Jolanda zurückgibt.«
Steve fühlte sich überfordert und er hoffte, dass Adamo es nicht merkte. Wie sollte er denn alles wieder umkehren?
»Ist er noch in deinem Kopf?«, fragte Jolanda.
»Keine Ahnung, die Schmerzen werden stärker. Kann sein, dass er weg ist«, antwortete Adamo mit Tränen in den Augen.
»Wird Steve uns wiederfinden? In ein paar Tagen müssen wir nach Trentino aufbrechen. Du weißt, meine Großeltern brauchen mich auf dem Hof.«
Steve sah in Adamos Gedanken, dass die Großeltern nicht der Hauptgrund waren, Trentino zu besuchen. Pater Matteo war der Grund. Er hatte Adamo zu verstehen gegeben, dass es zur Anhörung kommen würde, wenn Jolanda nicht zu sich käme. In seinen Augen war sie von den Toten zurückgekommen und nicht mehr sie selbst.
Während Hexen in Italien im Mittelalter nicht viel zu befürchten hatten, war die Kirche mit Ketzern oder Besessenen weniger zimperlich. Jolanda würde möglicherweise Tage oder Wochen verhört; ihr blühte Exorzismus, bliebe sie in der Stadt. Pater Matteo war überzeugt davon, Jolanda sei von einem Dämon besessen. Er wartete nur noch auf eine Depesche aus Rom. Papst Alexander VI. sollte dem Exorzismus zustimmen. Er hätte auch den zuständigen Kardinal um Erlaubnis fragen können. Matteo war ein guter Bekannter der Familie Borgia, deren Oberhaupt der Papst war.
»Steve kommt und holt mich. Dann bekommst du deine liebe Frau zurück«, sagte Julia, die immer noch Adamos Hand hielt.
Steve hörte die Worte und spürte die Hand der Frau, die er nur als Jolanda kannte. Er spürte eine unglaublich starke Wärme, die angenehm aus seinem Herzen kam. Sein Körper prickelte bis in die Fingerspitzen, doch die Worte verhallten und die Bilder verschwanden.

Als er die Augen öffnete, war er wieder in seiner Münchner Wohnung. Die ersten Sonnenstrahlen kamen durch sein Fenster. Er lag in seinem Bett und konnte sich kaum bewegen.
Seit drei Nächten träumte er von diesem Ort, an dem er nie gewesen war. Von Menschen, die er nicht kannte. Dennoch empfand er eine starke Bindung zu der Frau, die anscheinend aus seiner Zeit kam und nicht aus dem 16. Jahrhundert.
Julia … Wer war Julia? Und warum sprach sie aus Jolandas Mund? Dieser Nikolas Falk hatte von Seelenwanderungen gesprochen. Ob er ihm weiterhelfen konnte? Nikolas nannte sich einen Priori.
Durch die Bindung zu Adamo konnte Steve plötzlich gut Latein, wenn auch mit Dialekt. Noch im Liegen schnappte sich Steve sein Smartphone, um diesen Dialekt zu googeln. Schon nach wenigen Minuten fand er eine Popband auf YouTube. Sie bestand aus drei jungen Frauen, die tatsächlich in dem lateinischen Dialekt sangen, den Adamo und Jolanda sprachen. Ladinisch, eine noch immer gesprochene lateinische Variante aus der Südtiroler Gegend. Gänsehaut breitete sich an Steves Nacken aus. So seltsam war es doch für ihn, diese fremde Sprache mit einem Mal zu verstehen. Steves journalistischer Trieb wurde geweckt und versuchte, Verbindungen mit dem Erfahrenen und dem Erlebten zu knüpfen. Nikolas erzählte von den Priori. Das musste so etwas wie Erster, Vorderer, Vorgehender bedeuten. Hatte das was mit einer Religion zu tun? In mehreren Ordensgemeinschaften war ein Prior der Vorsteher eines Klosters. Aber was waren Priori? Antworten, die sich Steve von Nikolas Falk erhoffte.
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