»Klar, Herr Lumbeck. Aber bitte, haben Sie denn inzwischen Hinweise auf den Täter?«
»Herr Lombard, ich weiß, dass Ihnen Herr Thomas persönlich sehr nahestand. Ich muss Sie dennoch bitten, sich auch bis morgen zu gedulden.«
»In Ordnung. Danke Ihnen und schönen Abend.«
»Ihnen auch. Bis morgen.«
Steve hatte kaum aufgelegt, da fragte Nikolas: »Ich hatte recht, nicht wahr? Viktor ist nicht mehr unter uns.«
Steve steckte sein Smartphone wieder in die Hosentasche. Dann nickte er und sagte mit zittriger Stimme: »Ich war bei ihm, als es passierte. Er wurde erschossen. Mich haben die Täter bewusstlos geschlagen. Ich durfte nichts sagen. Es gab eine Nachrichtensperre.« Mit einem Mal traf ihn die Traurigkeit wie ein Vorschlaghammer. Er atmete tief durch, wollte sich seinen Zustand nicht anmerken lassen und drehte sich zum Fenster. Draußen senkte sich der Abend über die Stadt.
»Oh«, sagte Nikolas, »das tut mir leid. Darf ich fragen, ob du in der letzten Zeit so etwas wie fremde Gedanken hattest? Irgendetwas Ungewöhnliches?«
»Wie meinst du das?«
»Dass kleine Teile von Viktors Seelenenergie in dir sind, durch dieses traumatische Erlebnis. Das ist das Erbe von Viktor. Kann sein, dass das Möglichkeiten in dir geweckt hat, die neu für dich sind.«
Steve griff sich an die Stirn und massierte seine Schläfe. »Tatsächlich sind da ein paar merkwürdige Dinge geschehen. Du sagst was von Seelenwanderer. Ist das jemand, der seinen Körper verlässt und in einen anderen geht?«
Nikolas machte ein erfreutes Gesicht und bejahte. »Du musst diese Fähigkeiten erst kontrollieren lernen.« Nikolas breitete die Arme aus, wie wenn man einen alten Freund wiedersah. »Willkommen bei den Priori.«
»… bei den Priori?«
»Ganz genau. Du musst wissen, dass eine Seelenwanderung nur stattfinden kann, wenn der Geist des anderen Körpers schwer angeschlagen oder willensschwach ist. In deinem Fall wohl eher das Erstere. Na ja, wenn Rauschmittel im Spiel sind, geht es auch. Oder wenn jemand bewusstlos ist. Dann kann eine Seele durch einen Priori unterwandert werden.«
Nikolas musste lachen, als er Steve ansah. Vermutlich amüsierte ihn sein stirnrunzelndes Fragezeichengesicht.
Zaghaft stimmte Steve in das Lachen ein. »Entschuldigung. Ich muss mich an deine Antworten erst gewöhnen.«
»Klingt komisch, wie?«
»Wie soll ich sagen … unglaubwürdig.«
Na ja, bis auf die Sache mit Hope Solo eben. Steve entschied, es zunächst für sich zu behalten. Selbst wenn alles stimmte, was Nikolas sagte, hätte Steve als Seelenwanderer nicht ihren Körper übernehmen können. Unter Drogen hatte sie ja wohl kaum gestanden.
»Du musst dich den Tatsachen stellen«, sagte Nikolas. Er musterte Steve. »Dir ist schon etwas Ungewöhnliches passiert, habe ich recht?«
Steve sagte nichts. Nikolas griff in seine Tasche und fischte eine Visitenkarte heraus. »Komm morgen Vormittag zu mir, dann reden wir. Ach, und bring doch bitte Viktors Kiste mit.«
»Nikolas Falk, Wissenschaftlicher Leiter«, las Steve leise vor. Darunter stand noch was von einem Institut namens WIAP. Der Name war Steve unbekannt. Er würde es später googeln, so wie er es immer machte. »Gut, ich komme. Oh Moment, morgen Vormittag geht nicht. Pressekonferenz der Polizei. Danach muss ich die Story schreiben.«
Während Nikolas sich Richtung Tür bewegte, setzte sich Steve auf das Sofa.
»Dabei fällt mir ein, ich bin noch krankgeschrieben. Ich bitte meine Kollegin, zur Konferenz zu gehen.«
»Schön, wie du dir die Antwort auf dein Problem schon selbst gegeben hast«, erwiderte Nikolas. »Wir sehen uns morgen.« Dann verließ er die Wohnung.
Steve griff sofort zum Telefon. Er versuchte, seine Stimme krank und schwach klingen zu lassen, als er sich meldete.
»Hey, Steve, wie geht’s?«, fragte die Stimme am anderen Ende.
»Hey, Claudia«, sagte er und täuschte ein Husten vor, »so lala. Ich muss dich um etwas bitten.«
»Du fällst doch jetzt nicht etwa aus? Die Horn hat dich heute schon überall gesucht.«
»Aber sie weiß doch, dass ich krankgeschrieben bin.«
»Das ist ihr doch egal. Sie weiß, dass du gestern und heute im Sender warst. Und jetzt bist du plötzlich krank? Du hast was verbockt, oder?«
»Hör zu«, zischte Steve. »Viktor ist im Krankenhaus ermordet worden. Ich selbst war bei ihm und wurde bewusstlos geschlagen.«
Claudia stockte. »O Gott. Wie schrecklich. Wurden die … wer hat … geht es dir gut? O mein Gott, tut mir leid, dass ich dich so … Aber, warum weiß ich davon nichts?«
»Das war eine Hinrichtung.«
Für einen Moment war nur noch ein schweres Atmen in der Leitung zu hören.
»Claudia, mir geht es wirklich nicht gut. Ich habe eine Gehirnerschütterung, und das ist auch der Grund, warum ich dich bitte, dass du zur Pressekonferenz ins Präsidium musst. Ich maile dir die Kontaktdaten. Bitte entschuldige mich dort. Ich werde noch mal in die Klinik gehen.«
»Was heißt Pressekonferenz? Das ist doch ein exklusives Thema von uns.«
»Mord gibt’s nicht exklusiv. Bitte vertritt mich dort und mach einen Bericht fertig. Susanne musst du erklären, dass ich nichts sagen durfte. Und keine Sorge. Die Inhalte der Box haben wir exklusiv. Wir machen danach die ganze Story zusammen weiter. Bitte, Claudia.«
Wieder war Stille in der Leitung.
»Okay, ich mach’s.«
»Danke. Morgen um zehn ist der Pressetermin.«
»Okay«, sagte sie noch mal. »Furchtbar, was da passiert ist. Ich muss das … ich muss es jetzt auch erst mal verarbeiten. Gute Besserung, Steve.«
Dann war ein lautes Gurren aus dem Telefon zu hören.
»Was war denn das?«, fragte Steve.
»Meine Katze. Sie spürt, dass ich traurig bin, und will nur trösten«, sagte Claudia leise.
»Danke, dass du mir hilfst. Wir reden morgen.«
Steve mailte Claudia die Daten von Jeff Lumbeck zu und leitete auch die Einladung zur Pressekonferenz weiter. Dann dachte er daran, was er Claudia an Exklusivität versprochen hatte. Der Inhalt der Kiste war ihm ja selbst noch ein Rätsel, wie sollten sie das als Story verkaufen? Mit Seelenwanderern bräuchte er gar nicht erst anzufangen, wenn er seinen Job behalten wollte.
Bei Lumbeck entschuldigte sich Steve per Mail, verbunden mit der Bitte, in der Pressekonferenz nichts über den Inhalt der Box zu sagen. Dann war es wieder Zeit, zu Bett zu gehen.

»Adamo, halt still«, hörte er eine fremde, männliche Stimme auf Latein sagen. Der Schmerz durchzuckte vom Mund aus den ganzen Körper.
Adamo öffnete die Augen. Unscharf erkannte er einen Mann, der sich über ihn beugte. In seinem Mund spürte er etwas aus Metall, das seinen Zahn umklammerte. Der Schmerz wurde unerträglich.
»Jetzt ist es gleich geschafft«, sagte der Mann und machte im selben Augenblick einen kräftigen Ruck. Er hatte ihm offensichtlich einen Backenzahn gezogen. Das Stechen verwandelte sich in ein warmes Pochen. Adamos Mundhöhle füllte sich mit Blut und Eiter. Er musste spucken.
»Hier, kau diese Kräuter.« Jolanda reichte Adamo eine Handvoll Blätter.
Steve, der Adamos Körper wieder komplett eingenommen hatte, spürte den Schmerz, als ob es sein eigener wäre. Im Grunde genommen war er das auch. Als er auf den frischen Kräutern herumkaute, wurde es langsam besser. Er hatte so viele Fragen, doch das Sprechen war jetzt einfach nicht möglich. Zu sehr pochte und schmerzte sein Kopf. Der Zahnzieher gab Jolanda ein kleines Säckchen. Sie bedankte sich und ging zu Adamo.
»Komm, ich stütze dich«, sagte sie leise, sodass es wieder ein angenehmes Kribbeln in Steves oder vielmehr Adamos Nacken erzeugte. Das tat ihm gut.
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