Gleich auf der ersten Seite wurde er fündig. »Matera, verrückte Stadt in Stein gehauen«, las er. Genauer gesagt, ging es um die Höhlensiedlungen Sassi di Matera. Viele weitere Artikel wurden aufgelistet, in denen die kleine Stadt als Kulturhauptstadt 2019 gekürt wurde. Weiter kam er nicht, weil sein Smartphone klingelte. Lumbeck.
»Gilt unsere Vereinbarung noch? Bezüglich der Geheimhaltung?«, fragte der Kommissar.
»Natürlich«, sagte Steve. »Ich arbeite gerade an etwas anderem. Ihren Pressebericht hat offenbar niemand gelesen. Zumindest nicht hier in der Boulevard-Abteilung.« Seine Augen ließen Sassi di Matera nicht los.
»Können wir uns kurz mal unterhalten?«
Steve willigte ein, und schon eine halbe Stunde später traf er sich mit Lumbeck in einem Café auf dem Gelände des Senders.
»Wie geht es Ihnen?«, erkundigte sich Lumbeck.
»Es ist tatsächlich ein eigenartiges Gefühl. Einerseits ist es schrecklich … Viktor, die Schüsse, das Blut. Aber irgendwie kommt es mir so vor, als ob überhaupt nichts passiert wäre. Ich habe kein Trauergefühl, verstehen Sie?«
»Ich denke, das ist der Schock.«
Für einen Augenblick erlebte Steve noch einmal die Szene im Krankenhaus. Wie die Tür aufgerissen wurde, wie die Schüsse fielen. Wie Viktors Blut von der Bettdecke aufgesaugt wurde.
»Gibt es schon was Neues bei ihren Ermittlungen?«
»Ich muss gestehen, dass wir noch ganz am Anfang stehen«, erwiderte Lumbeck. »Aber was tun Sie überhaupt hier in der Arbeit? Sie sind doch krankgeschrieben.«
»Ich hole mir das Material von Viktor, ich will mir alles noch mal in Ruhe zu Hause ansehen.«
Lumbeck zückte sein Smartphone, auf dem er ein Foto der Kiste hatte. Er hatte die Inschrift fotografiert, nachdem er das Schloss gestern geöffnet hatte.
»Zeigen Sie das Bild bloß nicht meiner Chefin. Sie ist stinksauer, weil Viktor mit der Kiste verschwunden ist, ohne dass sie den Inhalt sehen durfte.«
»Der Inhalt«, begann Lumbeck, »diese Gegenstände, nun, wie soll ich sagen, diese Reliquien – zumindest gehe ich bei der Inschrift davon aus –, könnten es menschliche Überreste von Heiligen sein?«
Steve schüttelte unwissend den Kopf.
»Sie kannten Viktor Thomas seit Jahren. War er sehr religiös oder vielleicht Mitglied einer Sekte?«
»Nein. Viktor war ein sehr gebildeter Mensch. Er kannte sich gut aus mit Geschichte und wissenschaftlichen Dingen. Aber religiös, nein, religiös war er nicht.«
Matera. Die Bilder waren so unheimlich vertraut. Der Tag war schnell vergangen, und es war schon tief in der Nacht, doch Steve saß immer noch auf der Couch und sah sich Fotos von der steinernen Stadt auf seinem Tablet an. Gähnend rieb er sich die müden Augen. Eigentlich wollte er Viktors Kiste nicht anrühren, aber er öffnete sie, nahm die goldene Röhre und schaute sich den Zahn und die Haare noch einmal genauer an. Der Zahn war mit einem feinen Metallring umfasst, man konnte ihn als Kette tragen.
»Steve«, hörte er eine weibliche Stimme.
»Was?« Steve blinzelte schlaftrunken. Er befand sich wieder in dem Raum aus seinem Traum der letzten Nacht. »Oh mein Gott. Ich bin wieder da.« Verlegen lächelte er Jolanda an, die an der Bettkante saß und ihn sorgenvoll ansah.
»Schön. Du bist es, Steve.« Jolanda drückte ihn an sich.
Eine ungewöhnliche Wärme verursachte ein angenehmes Kribbeln, das vom Nacken bis in den Kopf ausstrahlte. Was hatte sie da gesagt? »Du nennst mich Steve?«
»Ja klar, ich spüre doch, dass du es bist.« Fragend sah sie ihn an. Irritiert löste sie die Umarmung.
Steve stand auf. Er fühlte sich wackelig auf den Beinen. Dann begann er, sich im Raum umzusehen.
»Wohin willst du?«
»Ich suche einen Spiegel.«
»Einen Spiegel?« Jolanda lachte. »Einen Spiegel haben wir nicht. Du kannst dich im Wasser ansehen.« Sie deutete auf die Waschschale.
Vorsichtig näherte sich Steve dem Tisch und blickte in die Schüssel. Was er sah, war – Adamo. Dunkles Haar, dunkler Teint, ein typischer Italiener. In jedem Fall: Das Gesicht war ihm völlig unbekannt.
»Crazy Traum«, sagte er und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Tisch. »Ich bin jetzt Adamo.«
»Nein, du bist jetzt Steve. Adamo bist du die restliche Zeit des Tages.«
»Ich habe keine Ahnung, was hier los ist.«
»Sag mir, wer ich bin, Steve.«
»Du bist Jolanda. Wir haben vor fünf Jahren geheiratet. Ich bin Steinmetz. Ich baue Häuser. Hier, hier in Matera.« Steve grinste. »Matera, das habe ich gegoogelt.«
»Gegoogelt, du Scherzkeks. Wir haben das Jahr 1503. Mit Internet kann ich hier nicht dienen.«
»Aber du weißt, was das Internet ist«, wunderte sich Steve.
»Aus welcher Zeit kommst du?«, fragte Jolanda stattdessen.
»2019.«
»Okay! Welcher Monat?«
»März.«
Jolanda setzte sich aufgeregt neben Steve an den Tisch und nahm seine Hände. Bevor sie weitersprach, kaute sie mit den Zähnen an ihrer Unterlippe herum. »Im April 2019 haben wir uns das erste Mal gesehen.« Dann schweiften ihre Blicke in den Raum. »Das werde ich nie vergessen.«
»Was meinst du damit? Was ist das für ein verrückter Traum?«
»Das ist kein Traum, Steve.« Sie legte ihre Hand auf seine und sah ihn flehentlich an. Ihre Haut fühlte sich warm und weich an.
»Wow, so einen realistischen Traum hatte ich noch nie.«
»Steve, ich will wieder heim.«
Doch Steve hatte genug von diesen verrückten Dingen. Es war ihm unheimlich. Alles war so realistisch. Wenn er sich hier schlafen legte, könnte er vielleicht den Traum beenden. »Jetzt will ich aber endlich aufwachen.«
»Aufwachen? Ich helfe dir beim Aufwachen!« Jolanda lachte trocken auf, und Steve staunte nicht schlecht, als sie auf ihn zu trat und ausholte. Ihre Hand knallte ihm ins Gesicht.
»Aua! Bist du verrückt?«
»Das ist kein Traum, Steve!«, schrie sie ihn an. »Das ist mein verdammtes Leben.«
Die Ohrfeige brannte auf seiner Wange. Er verstand überhaupt nichts mehr.
»Du hast mich hierhergebracht, Steve. Ich weiß nicht, wie du das gemacht hast, aber es ist passiert. Das ist kein Traum. Das ist das Leben. Die Wirklichkeit, Steve. Und ich sag dir was: Mir gefällt diese Wirklichkeit nicht. Du musst mich wieder zurückbringen. Ich will nach Hause.« Sie wurde traurig und war kurz davor zu weinen.
Steve wollte etwas sagen, sie beruhigen, ihr erklären, dass es nur ein Traum sei, doch als er seinen Mund öffnete, kamen ihm fremde Worte über die Lippen. Nein, nicht fremd. Es war dieses Latein, das wie ein merkwürdiger Dialekt aus Adamos Mund klang.
»Was ist mit mir, liebe Frau? Ich denke verrückte Dinge. Und du sprichst, fragst mich merkwürdige Sachen.« Adamo fasste sich an die Backe. »Jetzt brennt auch noch mein Gesicht.«
»Adamo, ich freue mich, dass es dir wieder besser geht«, erwiderte Jolanda. Auch sie sprach jetzt in diesem romanischen Dialekt. Steve entging die Traurigkeit in ihrem Blick nicht. »Du hast im Fieber zu mir gesprochen.«
»Ich habe starke Schmerzen in den Zähnen. Ich muss immer gelbes Wasser spucken, das soll aufhören.«
»Warum erzählst du erst jetzt davon?« Besorgt legte sie ihre Hand auf Adamos Stirn.
Steve erwachte wieder schweißgebadet, und wieder konnte er alle Details aus dem Traum im Kopf behalten. Oder war es kein Traum? Ratlos trank er noch einen Kaffee, bevor er das Haus verließ.
Ein hagerer junger Mann stand vor Steves Eingangstür auf der Straße. Er hatte lange Haare und einen dichten Bart, verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere, als wartete er schon lange. Als er Steve erblickte, trat er eilig auf ihn zu. »Hast du die Kiste?«
»Tut mir leid, ich weiß nicht, was Sie meinen.« Jetzt kam Steve dieser Mann doch unheimlich vor. Schnell ging er weiter, in der Hoffnung, dass er ihm nicht folgen würde. Der Mann sah ihm nur nach. Steve steig in sein Auto und fuhr direkt zum Sender. Es war bestimmt nur ein Fan, der an Übersinnliches glaubte. Davon gab es einige. Es gab richtige Gruppen, die an Viktors Geschichten festhielten. Manche waren schon beinahe fanatisch. Die Facebook-Kommentare machten das deutlich.
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