Sie sammelte die Einzelteile sorgfältig ein, ging dann schnell zum Badezimmer, wickelte sie in Toilettenpapier und spülte sie hinunter.
Anna dachte an das Telefonat zurück, das sie vor zwei Stunden mit ihrem Vater geführt hatte. Als Benji an die Tür ihres zeitweiligen Büros geklopft und ihr die Daten auf seinem Laptop-Bildschirm gezeigt hatte, war sie von tiefer Panik erfasst worden, denn sie hatte sofort erkannt, dass sie viel mehr als nur einen einfachen Hackerdiebstahl aufgedeckt hatten.
Sie war von ihrem Schreibtisch aufgesprungen und hatte die Tür zugeworfen, bevor sie und Benji eine hitzige Diskussion darüber geführt hatten, was sie als Nächstes tun sollten. Sie wusste, dass wer auch immer den Diebstahl durchgeführt hatte, wahrscheinlich auch einen Alarm ins System eingebaut hatte, der denjenigen bei unerwünschter Aufmerksamkeit warnen würde, und der angesichts der Komplexität des Datendiebstahls bestimmt auch in der Lage sein würde, ihren genauen Standort herausfinden zu können.
Nach zehn Minuten hatte Benji ihrem Plan zugestimmt.
Die Telefonverbindungen in der Westsahara waren leider notorisch schlecht, doch nachdem sie ihr Büro nicht hatten erreichen können, war es Anna wenigstens gelungen, ihren Vater in Arizona anzurufen. Als sie seine Stimme gehört hatte, waren ihr vor lauter Erleichterung die Tränen gekommen.
Er hatte ihren Vermutungen zugestimmt und ihnen befohlen, so schnell wie möglich zu packen und zu verschwinden. Annas Vater hatte Verbindungen, und er würde alles in seiner Macht Stehende tun, damit sie jemand am Flughafen abholen und in Sicherheit bringen würde.
Alles, was sie jetzt tun mussten, war, den Flughafen von Laâyoune zu erreichen.
Seitdem hatte Anna versucht, ihn noch einmal anzurufen, um ihn auf den aktuellen Stand zu bringen, doch ihre Anrufe landeten immer direkt auf der Mailbox.
Anna kehrte ins Schlafzimmer zurück, packte ihren Koffer zu Ende und schloss den Reißverschluss. Anschließend zog sie die Bettwäsche glatt und überprüfte das Zimmer noch einmal gründlich.
Nichts wies mehr auf ihre Anwesenheit hin.
Sie warf erneut einen Blick auf ihre Armbanduhr. Noch fünf Minuten, bis sie Benji treffen sollte.
Nachdem sie vor drei Wochen auf dem einzigen internationalen Flughafen des besetzten Landes angekommen waren, hatten sie eine kleine Limousine gemietet, die seit ihrer Ankunft auf dem Parkplatz des Minenlagers stand. Anna wurde vor Angst schlecht, als sie daran dachte, dass der Motor eventuell nicht anspringen könnte; sie wusste schließlich, wie launisch Fahrzeuge in einem so rauen Klima sein konnten und verfluchte jetzt ihr Versäumnis, nicht regelmäßig den Öl- und Kühlmittelstand kontrolliert zu haben.
Ein lauter Schrei unterbrach jetzt ihre Gedanken und sie huschte hastig zum Fenster und spähte durch die Gardinen.
Dann musste sie einen Aufschrei unterdrücken.
Eine Gruppe von Männern stand am Eingang des Hains, der seine Schatten auf die Bungalows warf. Sie alle hielten Sturmgewehre in den Händen und ihre Tarnanzüge ließen keinen Zweifel am Grund ihrer Anwesenheit. Alle zielten jetzt gleichzeitig auf eine Gruppe von Arbeitern, die mit weit aufgerissenen Augen aus dem Hauptlager herausrannten und versuchten, den bewaffneten Männern zwischen den Gebäuden zu entkommen.
Die panischen Schreie der Bauarbeiter wurden immer lauter, als Schüsse die Luft durchdrangen. Die Flüchtenden am Ende der Menge stürzten in den Dreck, als sie hinter ihren stolpernden Kollegen niedergemäht wurden.
Annas Fingerknöchel wurden weiß, als sie den Fensterrahmen umklammerte, dann wich sie in die Dunkelheit des Raumes zurück, ohne ihren Blick von dem Blutbad abwenden zu können.
Als die Männer mit den Waffen näherkamen, hörten sie auf zu schießen und die Flüchtenden brachen durch die Sträucher, die den Hain vom Parkplatz hinter dem Haupteingang trennten, dann verschwanden sie außer Sicht; nur ihre geschockten Stimmen waren weiterhin zu hören.
Anna fluchte unterdrückt.
Ihre Verfolger hatten wesentlich schneller reagiert, als sie es ihnen zugetraut hatte. Zweifellos war ein Alarm ausgelöst worden, als sie und Benji zum ersten Mal die Sicherheitslücke entdeckt hatten, was bedeutete, dass ihre Befürchtungen begründet gewesen und sie beobachtet worden waren.
Sie schloss die Vorhänge und schaltete die Klimaanlage aus, dann schob sie ihren Koffer unter das Bett und zog die Bettdecke so weit herunter, bis sie das Gepäckstück verdeckte. Als Nächstes holte sie ihr Handy heraus, schaltete es auf stumm und deaktivierte auch die Vibrationsfunktion, anschließend tippte sie die Kurzwahlnummer für die Ranch ihres Vaters in Arizona an.
Sie bemerkte, dass sich der Deckenventilator noch drehte, und schlug auf den Schalter neben ihrer Schulter, während sie dem Wählton lauschte.
Anna fluchte, als sie sofort zur Mailbox weitergeleitet wurde, und beendete den Anruf. Als plötzlich zwei laute Schüsse durch den Komplex donnerten, ließ sie fast das Telefon fallen.
»Nein«, murmelte sie erschrocken.
Anna huschte zurück zum Fenster und ging in die Knie, bevor sie die Unterkante des Vorhangs zur Seite zerrte. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um sich selbst am Schreien zu hindern, als Benjis zappelnder Körper von zwei Männern aus seinem Zimmer geschleppt und auf der kleinen, holzüberdachten Terrasse, die den Bungalow umgab, fallen gelassen wurde.
Er blutete aus einer Wunde am Bein und schrie vor Qual und Schrecken, bis einer der Männer eine Pistole auf sein Gesicht richtete und den Abzug drückte.
Anna wimmerte, ließ den Vorhang zurückfallen und hastete durch den Raum. Als sie an ihrem Rucksack vorbeikam, der neben dem Bett auf dem Boden lag, schnappte sie ihn, schwang ihn sich über die Schulter und schlich dann ins Badezimmer.
Sie hockte sich auf den gefliesten Boden und gab erneut die Kurzwahlnummer für ihren Vater ein. Es klingelte dreimal, und vor ihrem inneren Auge sah sie Bilder des Satellitentelefons, das im Büro ihres Vaters in der Ladestation steckte, während er auf der Ranch unterwegs war, um die Arbeit seines geschäftigen Betriebs zu überwachen.
Sie unterdrückte ihre Tränen, als der Klingelton erneut verstummte und durch einen einzigen, einsamen Piepton ersetzt wurde, dann unterbrach sie die Verbindung.
Von draußen drangen jetzt Schreie an ihre Ohren und ihr wurde bewusst, dass ihr die Zeit in rasantem Tempo davonlief.
Sie steckte das Telefon in die Seitentasche ihres Rucksacks und richtete ihre Aufmerksamkeit nun auf das kleine Fenster über dem Waschbecken.
Sie krallte ihre Finger um den Metallriegel und zog fest daran.
Doch er bewegte sich nicht.
Sie fluchte unterdrückt, dann positionierte sie ihre Füße links und rechts vom Waschbecken, sodass sie sich gegen den Waschtisch abstützen konnte und drückte ihre Beine dagegen, während sie mit aller Kraft am Riegel zog.
Sie keuchte, als die Verriegelung unter ihren Anstrengungen ein wenig nachgab, dann zog sie noch einmal so fest sie konnte, mit zusammengebissenen Zähnen.
Der Riegel verschob sich in seiner Befestigung und eine kleine Menge getrockneter Farbe regnete auf das Waschbecken hinab, als die Metallbefestigung endlich nachgab.
Annas Aufmerksamkeit richtete sich jetzt auf den Rahmen, dessen Holzoberfläche von mehreren dicken Farbschichten überzogen war. Sie legte ihre Handflächen darauf und schob, doch er hielt stand.
Als von unten ein Schrei durch das Badezimmerfenster hinauf schallte, erstarrte sie und hielt den Atem an.
Aus größerer Entfernung wurde ein Befehl gebellt, dann zogen sich die Schritte vom Bungalow zurück.
Haben sie mich gehört?
Sie zählte bis zehn, atmete dann aus und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die anstehende Aufgabe. Verzweiflung ergriff sie, als sie erkannte, dass ihr Leben davon abhing, ein Versteck zu finden, und das so schnell wie möglich.
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