Übertragen auf eine historische Sprachstufe entspräche die erste Ecke, das aktuelle/konkrete Zeichen, dem schriftlichen Beleg, die zweite der lexikalischen Form, welche als Lemma in einem Wörterbuch existiert, die dritte und vierte der Bedeutung bzw. dem Konzept, welche in den Wörterbüchern nicht klar unterschieden und relativ knapp und nicht immer harmonisch dargestellt werden, und die fünfte einem tatsächlicher Referenten, der Jahrhunderte später nur in Ausnahmefällen auch noch tatsächlich vorliegt. Gerade die dritte und vierte sind für historische Wissenschaften entscheidend. Dabei stellt sich die Frage, was den Unterschied zwischen Bedeutung und Konzept eigentlich ausmacht. Laut Glessgen (2011: 450–456) sind beide Begriffe grundsätzlich identisch und können neurologisch nicht unterschieden werden. Die Bedeutung lässt sich lediglich durch den syntagmatischen Kontext (Kollokation), die diasystematischen Merkmale (Konnotation) und die morphologische Struktur des Lexems (Flexion) vom Konzept abgrenzen. Unabhängig vom Sprachsystem sind die Konzepte jedoch soziokulturell und historisch verschieden. Das Konzept BUCH äussert sich beispielsweise in der Antike als eine von Hand beschriebene Rolle aus Papyrus, im Mittelalter als ein von Hand beschriebener Kodex aus Pergament und in der Neuzeit als ein gedruckter Kodex aus Papier. Die hier angeführten Konzepte beschränken sich jedoch lediglich auf das materielle Objekt, wie es aus den jeweiligen Epochen erhalten ist, lassen aber beispielsweise Gebrauch, Inhalt oder kulturelle Bedeutung aus. Wie erhält man nun Zugang zu mittelalterlichen Konzepten und Bedeutungen, welche u.a. über die Materialität hinausgehen? Mit dieser Problematik beschäftigen sich drei jüngere Untersuchungen mit unterschiedlichen Lösungsansätzen, die im Folgenden besprochen werden:
Lenerz (2006) zeigt erstens, dass bei jedem Lexem abhängig vom Kontext diverse konzeptuelle Verschiebungen auftreten. Zum Beispiel hat nhd. Buch verschiedene Konzepte wie das Buch als physisches Objekt, Handelsware, oder Text. Diese konzeptuellen Unterschiede erklären beispielsweise, dass mittelalterliche Texttermini mit modernen Konzepten in der Regel nicht übereinstimmen und den Umgang gerade in der Mediävistik erschweren. Lenerz untersucht diese Unterschiede am Beispiel des mittelhochdeutschen Lexems mære . Je nach Kontext kommen verschiedene Konzepte zum Zuge, die alle zur Bedeutung von mære beitragen. Die Bedeutung des Lexems bewegt sich dabei zwischen Geschichte und Ereignis, Stoff und Erzähltext, Erzähltradition und Quelle. Daneben gibt es metonymische Verschiebungen zum Geschehenen, Ereignis oder zur Mitteilung oder dem Mitteilen (vgl. Lenerz 2006: 41f.). Lenerz geht aber nicht näher darauf ein, wovon genau diese konzeptuellen Verschiebungen abhängen, insbesondere nicht von welchen syntagmatischen Relationen, obwohl er den Kontext erwähnt. Es wird auch nicht deutlich, ob die Bedeutungsebenen konventionell oder nicht-konventionell sind. Lenerz (2006: 38) verlässt sich dabei auf ein „Sprachgefühl“, welches sowohl in der Hermeneutik als auch in der Linguistik angewandt wird. Diesbezüglich muss aber beachtet werden, dass dieses Sprachgefühl in der Muttersprache sicher verwendbar ist, und auch in einer Fremdsprache, wenn die Kompetenz genug hoch ist. Schwieriger verhält es sich mit einer historischen Sprachstufe, die keine Sprecher mehr hat, welche als Korrekturinstanz fungieren könnten. Ein solches Sprachgefühl basiert auf der Kenntnis des Korpus, der Wörterbücher und der Grammatik, und muss keineswegs zu falschen Schlüssen führen. Dass dies aber bei einer unreflektierten Herangehensweise häufig doch geschieht und fatale Fehlinterpretationen nach sich zieht, demonstriert Lobenstein-Reichmann (2011: 69f.) am Beispiel von nhd. Leidenschaft . Dieses Lexem ist erst seit dem 17. Jahrhundert belegt. Das neuhochdeutsche Konzept LEIDENSCHAFT wird aber auf andere Sprachen bis in die Antike übertragen, ohne zu reflektieren, dass sich die jeweiligen Konzepte grundsätzlich unterscheiden.
Wesentlich transparenter ist die zweite Analyse des afrz. aventure von Lebsanft (2006). Er vergleicht diverse Kollokationen dieses Lexems in einem Korpus und arbeitet verschiedene Bedeutungen heraus, welche von den jeweiligen syntagmatischen Relationen des Lexems abhängen. Bedeutungskern ist „etwas Aussergewöhnliches, das jemandem unwillentlich widerfährt“, also eine Begebenheit oder ein Ereignis. Dass diese berichtenswert sind, zeigen Belege mit Verben des Hörens und des Sagens mit aventure als Akkusativobjekt (vgl. Lebsanft 2006: 316f.). Als Subjekt des Verbs mener bekommt es die Bedeutung ‚Zufall‘, mit den Adjektiven bone und male die Bedeutung ‚Glück‘ bzw. ‚Unglück‘. Abhängig von der syntagmatischen Relation kann auch ein Tausch der thematischen Rollen stattfinden. Beim Verb avenir ist aventure als Agens im Subjekt und das Dativobjekt ist der Experiencer, bei den Verben aler querre und trover fungiert es als Thema im Akkusativobjekt und das Subjekt ist Agens (vgl. Lebsanft 2006: 329). Lebsanft (2006: 336) stellt mit dieser Methode insgesamt acht verschiedene Bedeutungen für aventure fest. Seine Methode liesse sich ebenso gut auf das obenerwähnte Lexem nhd. Buch anwenden. Ein Adjektiv schwer verweist beispielsweise auf das Buch als physisches Objekt, ein Verb kosten auf das Buch als Handelsware oder lesen auf das Buch als Text. Lebsanfts syntaktische Analyse mittels der Valenz und der thematischen Rollen zeigt, dass sowohl auf der Ausdrucksseite als auch auf der Inhaltsseite eine Struktur existiert.
Die dritte der hier vorgestellten Untersuchungen von Braun (2016) beschäftigt sich eingehender mit der Struktur der Inhaltsseite für das Verb bitten in althochdeutschen Gebeten und wendet dazu das Prinzip eines kognitiven Frames an, um die Valenz des Verbs „vor dem Hintergrund des textuellen Gesamtbildes“ zu analysieren. Braun (2016: 98) postuliert hierfür einen Frame A bittet B um D , also ein Betender (A), welcher eine höhere Instanz (B) um etwas (D) bittet. Dieser Frame erweitert sich aber in Otlohs Gebet um die Stellen für C (Personen, für die gebetet wird) und mittels E (legitimierendes Wirkmittel). Beim Augsburger Gebet fallen A und C hingegen zusammen (vgl. Braun 2016: 103–105). Braun geht in seiner Analyse somit noch tiefer auf die Inhaltsseite als Lebsanft (2006) ein, indem er das Konzept mithilfe eines kognitiven Frames strukturiert.
Die drei aufgeführten Untersuchungen zeigen zum einen, dass das Lexem nicht auf ein Konzept reduziert werden kann, und zum anderen, dass die verschiedenen Konzepte vom Kontext abhängen. Diese Abhängigkeit äussert sich einerseits in den syntagmatischen Relationen, welche die Valenz und Kollokationen auf der Ausdrucksseite umfassen. Andererseits gibt es auch auf der Inhaltsseite eine Struktur, den kognitiven Frame. Genau bei dieser Schnittstelle zwischen Valenz und Frame soll die vorliegende Arbeit ansetzen.
Lange vor dem Aufkommen der Framesemantik beschäftigte sich Porzig (1934/1973) mit syntagmatischen Relationen, welche er „wesenhafte Bedeutungsbeziehungen“ nennt. Während der Hochphase des Strukturalismus fanden diese im Gegensatz zu den paradigmatischen Relationen, welche das Wortfeld konstituieren, lange Zeit keine Beachtung (vgl. Geeraerts 2010: 57f.). Porzig (1934/1973: 82) stellt beispielweise fest, dass die Ergänzung eines Verbs zu seinem Begriff nicht etwas Neues hinzubringt. Die Bewegungsverben fahren , reiten , gehen unterscheiden sich beispielsweise in der Art der Fortbewegung mit Fahrzeug ( fahren ), Reittier ( reiten ) oder ohne Hilfsmittel ( gehen ). Das Fortbewegungsmittel bleibt implizit, kann aber explizit als Ergänzung vorkommen (z.B. Ich reite auf einem Pferd , vgl. Porzig 1934/1973: 82f.). Zu diesen simplen Beispielen erwähnt Porzig aber auch einen komplizierteren Fall, der für diese Arbeit besonders interessant und inspirierend ist, das Verb schreiben :
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