Dieser Weg soll in dieser Arbeit ebenfalls gegangen werden, um den Wortschatz des Schreibens und Lesens im Altisländischen zu analysieren. Den Ausgangspunkt bildet die Belegstelle mit dem jeweiligen Lexem und seinem Kontext. Dies setzt ein Korpus voraus, welches im folgenden Kapitel (I.3.) beschrieben wird. Da es sich bei den hier untersuchten Lexemen ausschliesslich um Verben handelt, geht es in erster Linie darum, ihre Valenz zu analysieren, und ihre Ergänzungen möglichen Attributen im Frame zuzuordnen. Dazu gehören alle direkt vom Verb abhängigen Konstituenten: Subjekt, Akkusativ-, Dativ- und Genitivobjekt, Präpositionalobjekte und Adverbien. Es wird keine Grenze zwischen (obligatorischer) Ergänzung und (fakultativer) Angabe gezogen, weil diese nicht bekannt und für die Analyse wahrscheinlich auch nicht relevant ist. Da je nach Diathese gewisse thematische Rollen unterschiedlich realisiert werden, werden abhängig davon die Konstituenten nach diesen als Agens, Patiens, Thema oder Causer benannt.
Die Nomenklatur der Attribute muss im Laufe der Analyse kontinuierlich angepasst werden, weil das Konzept nicht a priori bekannt ist. So beginnt auch Braun (2016) mit einem postulierten Frame und revidiert diesen nach der Analyse der jeweiligen Texte. In der vorliegenden Arbeit werden mögliche Attribute in den Einleitungskapiteln zu den beiden Analyseteilen reflektiert und im Laufe der Analyse angepasst. Die in den Ergänzungen enthaltenen Lexeme werden bei der Analyse als Werte gesammelt. Auf die Wertkonzepte kann nur anhand der vorliegenden Belege eingegangen werden, was zwangsläufig ein unvollständiges Bild des Wertkonzepts ergibt. Der Analyse muss jedoch, wie auch von Barsalou (s.o.) konstatiert wurde, eine Grenze gesetzt werden, weil jeder Wert wieder ein eigenes Konzept hat, welches wiederum für sich analysiert werden müsste, was bei Dutzenden von Werten nicht möglich ist. Da die Wertkonzepte nicht genau bekannt sind, sind auch Aussagen über Constraints nur begrenzt möglich.
3. Korpus
3.1. Korpusbildung
Die bisherige Forschung zum Wortschatz des Schreibens und Lesens im Altnordischen hat vor allem mit einzelnen Textstellen und Wörterbüchern gearbeitet (vgl. Kap. II.1., III.1.). Häufig zitiert werden die Prologe, welche hauptsächlich das Schreiben, aber weniger das Lesen reflektieren, und äusserst heterogen in der Überlieferung sind: Sie gehören zu unterschiedlichen Texten, so dass diese in die Analyse miteinbezogen werden müssen, und sind in unterschiedlichen, teils neuzeitlichen Handschriften erhalten. Meine Lizentiatsarbeit hat sich einem längeren Text gewidmet, der Sturlunga saga , die trotz ihres Umfangs einen limitierten Wortschatz enthält. Gewisse Lexeme sind nur vereinzelt belegt, was eine Analyse erschwert (vgl. Müller 2018). Spurkland (1994) verwendet als einziger ein umfangreicheres Korpus norwegischer Runeninschriften, das er aber rein quantitativ nutzt, um die Anzahl der Lexeme nachzuweisen.
Diese selektive Vorgehensweise kann kaum ein geschlossenes Bild der Lexik und Semantik des Schreibens und Lesens im Altnordischen geben. Selbst eine Berücksichtigung aller überlieferten Texte könnte dies nicht geben, weil sie die altnordische Sprache nur fragmentarisch abbilden. Heringer (1993) kritisiert die fehlenden Methoden und Reflexionen der historischen Semantik, besonders was die Belegmenge und die Repräsentativität der untersuchten Texte sowie die Festigkeit der Bedeutung betrifft. Diese Kritik hat an Aktualität nichts eingebüsst. Mit diesem Problem sieht sich auch die vorliegende Arbeit konfrontiert. Allein schon die bis heute erhaltenen handschriftlich überlieferten Texte stellen eine Selektion dar. Für diese Arbeit muss wegen des Umfangs eine noch engere Auswahl vorgenommen werden, die im Folgenden dargelegt wird. Die Ergebnisse sind somit nicht repräsentativ für die altisländische Sprache und das mittelalterliche Island, sondern nur für die in diesem Korpus enthaltenen Texte, können aber der weiteren Erforschung als Grundlage dienen.
Bei der Textauswahl stellt sich die Frage, welche Texte sich für ein Korpus zum altisländischen Wortschatz des Schreibens und Lesens besonders eignen. Die lateinische Schrift kam mit der Christianisierung um das Jahr 1000 nach Island. Die ältesten erhaltenen Handschriften stammen allerdings erst aus dem 12. Jahrhundert. Von da an nimmt die Zahl überlieferter Handschriften bis ins 14. Jahrhundert kontinuierlich zu. Die wichtigsten historischen Quellen, welche diese Zeit und diesen Raum abdecken sind die Sturlunga saga und die Bischofssagas ( biskupasǫgur ) (vgl. Bragason 2005: 428, Grímsdóttir 2003: XXX, Tómasson 2002: 793–801, Uecker 2004: 19–23, 93, 112).
Der beste Weg wäre also, diese Texte in einem elektronischen Korpus nach Belegen zu durchsuchen. Dieser Methode sind in der Altisländischen Sprache jedoch Grenzen gesetzt. Obwohl es mehrere elektronische Korpora mit altisländischen Texten gibt, kommen die Bischofssagas darin kaum vor. Die Zusammensetzung der Korpora erlaubt aber auch mit anderen Texten eine seriöse Arbeit nur in sehr eingeschränktem Ausmass. Das isländische Korpus Málföng (malfong.is) umfasst auch mittelalterliche Texte ( fornritin ) ( http://mim.arnastofnun.is/index.php?corpus=for). Darunter befinden sich folgende Gattungen und Werke: Isländersagas ( Íslendinga sögur ), Sturlunga saga , Heimskringla und Landnámabók . Die für die Erforschung der Schriftlichkeit essentiellen Bischofssagas fehlen jedoch. Das Korpus basiert zudem auf normalisierten Editionen, in denen die verwendeten Handschriften und Redaktionen nicht unterschieden werden. Dies ist besonders fatal, da diverse altisländische Texte nur in frühneuzeitlichen Abschriften von verloren gegangenen mittelalterlichen Vorlagen überliefert sind, so dass der Bestand zeitlich weit über das Mittelalter hinausgeht. Deshalb ist dieses Korpus auch für die Analyse der Sturlunga saga ungeeignet.
Ein weiteres elektronisches Korpus ist http://corpus.arnastofnun.is/, in dem ebenfalls sowohl alt- als auch neuisländische Texte durchsucht werden können, jedoch nicht die Bischofssagas. Ausserdem basiert das altisländische Korpus ebenfalls auf normalisierten Editionen. Ein grösseres Projekt, das mit den einzelnen Handschriften arbeitet, ist Medieval Nordic Text Archive ( http://www.menota.org/), in dem sowohl die Sturlunga saga als auch die Bischofssagas leider fehlen. Das laufende Wörterbuchprojekt Ordbog over det norrøne prosasprog (= ONP) ‚Wörterbuch zur altnordischen Prosasprache‘ ( http://onp.ku.dk/)der Universität Kopenhagen ermöglicht es, einzelne Lexeme und auch Kollokationen in verschiedenen kritisch edierten Texten zu finden; das Projekt ist aber noch nicht abgeschlossen, d.h. das Material ist nicht vollständig aufbereitet. Bei den jeweiligen Texten ist ausserdem nur eine Auswahl pro Lemma getroffen worden. Dies erlaubt keine Stichproben, um Texte auszuwählen, die ein besonders hohe Dichte an Belegen aufweisen. Mit dem ONP ist es immerhin möglich, in der Sturlunga saga und den Bischofssagas selten belegte Lexeme mit Belegen aus anderen Textgattungen zu vergleichen und auch das Alter der Lexeme zu belegen. Weil es keine geeigneten elektronischen Korpora gibt, ist es nötig, die Texte analog in der Originalsprache durchzulesen und nach Stellen mit Lexemen zum Schreiben und Lesen zu exzerpieren. Diese aufwendige Arbeitsweise erlaubt nur ein relativ kleines Korpus, weshalb eine gezielte Selektion nötig war. Dafür wurden folgende drei Texte ausgewählt: Jóns saga biskups , Sturlunga saga und Laurentius saga biskups . Die Wahl basiert auf folgenden Kriterien: Sie enthalten viele Belege zum Schreiben und Lesen, sind in altisländischer Sprache geschrieben, handeln hauptsächlich in Island, sind auch in Island entstanden und zum grössten Teil in mittelalterlichen Handschriften überliefert. Zu den drei Texten und ihren Handschriften liegen zudem kritische Editionen vor.
Читать дальше