An die Analyse der Lexeme schliessen sich vier weitere Fragen an: 1. In welchem Verhältnis stehen diese Konzepte zu den Erkenntnissen der bisherigen Forschung und 2. welche neuen Erkenntnisse können sie bieten? Aus linguistischer Warte stellen sich zwei zusätzliche Fragen: 3. Welcher lexikalische und semantische Wandel hat im Laufe des Mittelalters stattgefunden und 4. wie repräsentativ ist das untersuchte Korpus überhaupt?
Entlang dieser Fragen bewegt sich der weitere Verlauf der vorliegenden Arbeit. Das folgende Kapitel I.2. widmet sich, wie bereits erwähnt, der Theorie und Methode, wie die Bedeutung eines Lexems systematisch im Kontext analysiert werden kann. Das nachfolgende Kapitel I.3. beschreibt die Bildung und Zusammensetzung des Korpus. Auf diesen ersten, einführenden Teil folgen zwei gleich aufgebaute Analyseteile zum Schreiben (Teil II) und zum Lesen (Teil III). Das einleitende Kapitel widmet sich dabei jeweils eingehend der Forschung zum jeweiligen Wortschatz, dessen Zusammensetzung, den Konzepten und den möglichen Attributen des Frames. In der Folge werden die einzelnen Belegstellen nach syntagmatischen Relationen untersucht und diese den möglichen Attributen des Frames zugeordnet. Die zu analysierenden Belegstellen ordnen sich nach den Lexemen und Texten. Grössere Belegreihen werden gegebenenfalls nach Valenzen oder Kollokationen noch feiner unterteilt. Wenn in einem Kapitel zwei oder mehr Belege analysiert werden, werden sie der Übersicht halber mit Minuskeln versehen.
Die Ergebnisse zu den einzelnen Lexemen und Texten werden am Schluss der betreffenden Kapitel gesammelt, in denen versucht wird, das Konzept mit dem auf Grundlage der syntagmatischen Relationen und semantischen Beziehungen zu strukturieren und zu analysieren. Der jeweilige Analyseteil wird mit einer abschliessenden Analyse des Wortschatzes und der Konzepte abgerundet. Die Ergebnisse zu den einzelnen Lexemen werden hier gesammelt und in Beziehung gesetzt. Dies beinhaltet die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Konzepten und syntagmatischen Relationen, die paradigmatischen Relationen im Wortschatz und auch die Ergebnisse der bisherigen Forschung. Der Vergleich ermöglicht es zudem, Schlussfolgerungen zum lexikalischen und semantischen Wandel zu ziehen.
Im abschliessenden vierten Teil werden die im Laufe der Analyse gewonnenen Erkenntnisse in der Konklusion zusammengefasst und reflektiert. Dies betrifft auch die Leistungsfähigkeit der verwendeten Theorie und Methode sowie die Repräsentativität des Korpus. Zuletzt wird die Frage beantwortet, welche neuen Erkenntnisse und neue Anschlüsse diese Arbeit insbesondere im Verhältnis zur bisherigen Forschung bietet. Das anschliessende Abstract bietet zudem eine Zusammenfassung in englischer Sprache.
Weil die Zitate in der Analyse aus Platzgründen möglichst kurz gehalten und dieselben Belegstellen aus lexikalischen und syntaktischen Gründen getrennt behandelt werden, enthält diese Arbeit am Schluss einen Anhang mit allen Belegstellen des Korpus, die zur besseren Übersicht nach den Texten und Seitenzahlen geordnet sind. Dies ermöglicht, die Belege in einem weiteren Kontext und aus der Perspektive der Erzählung zu betrachten. Da die Arbeit nach den Lexemen geordnet ist, können einzelne Lexeme aus den Belegen über das Inhaltsverzeichnis gefunden werden.
Da die Texte in den Editionen grösstenteils nicht normalisiert abgedruckt sind, werden für eine bessere Lesbarkeit im Lauftext der Arbeit die Lexeme, Konstituenten und Kollokationen normalisiert. Altisländische Namen behalten die Endung -r (z.B. Guðmundr), im Genitiv wird sie aber weggelassen (z.B. Guðmunds). Beinamen werden nicht übersetzt und klein geschrieben. Alle Texte des Korpus sind bisher nicht vollständig ins Deutsche übersetzt worden. Deshalb stammen die Übersetzungen der zitierten Stellen vom Autor der vorliegenden Arbeit (gekennzeichnet durch „KM“) und bewegen sich der Transparenz der Analyse wegen möglichst nahe am Wortlaut der Originalsprache, wofür stilistische Kriterien unter Umständen zurückgestellt werden mussten.
Wenn man die Bedeutung eines unbekannten Wortes wissen will, schlägt man, so denn möglich, in einem Wörterbuch nach. Das ausführlichste altnordisch-deutsche Wörterbuch stammt von Baetke (2002). Es erwähnt beispielsweise für das Lemma lesa vier Bedeutungen, aufgeführt mit entsprechenden Zitaten aus der Prosaliteratur, die hier weggelassen werden: „1. zusammen-, auflesen, sammeln“, „2. (er-)greifen, nehmen“, „3. Figuren einweben od. sticken“, „4. lesen, verlesen“. Für die vierte Bedeutung, welche für diese Arbeit von besonderem Interesse ist, führt Baetke (2002: 376) jedoch keine Belege aus der Prosaliteratur an. Für das Verstehen oder Übersetzen des Lemmas lesa stellen sich zwei Fragen: 1. In welchem Kontext trifft welche Bedeutung zu? 2. Was ist mit „lesen, verlesen“ eigentlich gemeint? Noch knapper verhält es sich mit dem Lemma rita , für das Baetke (2002: 503) keine Zitate darlegt und die Bedeutungen „schreiben, aufzeichnen, berichten“ anführt. Zusätzlich nennt er die Konstruktion rita til e-s mit der Bedeutung „an jmd. schreiben“, welche immerhin anhand der Valenz unterschieden werden kann. Hier stellt sich wieder die Frage nach dem Konzept SCHREIBEN. Forschungsarbeiten in den letzten Jahrzehnten ergaben, dass sich die mittelalterliche und die heutige Schriftkultur deutlich unterscheiden (vgl. Kap. II.1. und III.1.), so dass sich das heutige Konzept SCHREIBEN nicht ohne weiteres auf das historische Konzept übertragen lässt.
Diese Problematik des Bedeutungswandels diskutiert Lobenstein-Reichmann (2002: 74f., 79) anhand des Beispiels leben im Frühneuhochdeutschen und Neuhochdeutschen: Die Bedeutungen in beiden Sprachperioden sind zwar ähnlich, aber in der Frühen Neuzeit spielen moralische Kriterien und die soziale Ordnung beim Leben eine grössere Rolle, während heutzutage Genuss und materielle Ausstattung im Vordergrund stehen. Diese schärfere Analyse der Bedeutung wird durch Einbeziehen der syntagmatischen Relationen, besonders durch Betrachtung der Begriffsgefüge, erreicht. Gerade diese syntagmatischen Relationen fehlen in Baetke (2002), sodass die Übersetzungen ‚lesen‘ und ‚schreiben‘ für lesa und rita in die Irre führen können, da sich die Konzepte LESEN und SCHREIBEN im mittelalterlichen Island von den heutigen deutlich unterschieden.
Die Bedeutung des betreffenden Lexems hängt also vom Kontext ab, einerseits von einem aussersprachlichen Kontext, der mittelalterlichen Schriftkultur, und andererseits vom innersprachlichen Kontext, den syntagmatischen Relationen, die gerade beim Verstehen von polysemen Lexemen wie lesa entscheidend sind, was die Kollokationen lesa bók ‚Buch lesen‘ und lesa ber ‚Beeren lesen‘ beispielhaft verdeutlichen. Die Bedeutung muss deshalb auch im Kontext des Lexems analysiert werden. Aber wie analysiert man die Bedeutung im Kontext? Hier muss zunächst die Frage geklärt werden, was mit Bedeutung und Kontext überhaupt gemeint ist. Die Bedeutung ist der Inhalt des sprachlichen Zeichens, welcher sich auf einen tatsächlichen Referenten bezieht. Den Bezug vom Zeichen zum Referenten stellt der Zeichenbenützer her. Dieses semiotische Dreieck übersieht aber ein wichtiges Zwischenglied, das Konzept. Das in der Romanistik verwendete semiotische Fünfeck wird diesen Tatsachen gerechter: Zwei Ecken liegen auf einer aktuellen/konkreten Ebene: 1. das tatsächliche Zeichen und 5. der tatsächliche Referent, während drei Ecken sich auf einer virtuellen/abstrakten Ebene befinden: 2. die lexikalische Form des Zeichens im sprachlichen System, bestehend aus Phonemen oder Graphemen, 3. der Zeicheninhalt – beide gehören zum Lexem – und 4. das Konzept. Das aktuelle/konkrete Zeichen ist mit dem Lexem verbunden und der Referent mit dem Konzept (vgl. Glessgen 2011: 422–426).
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