Zuerst dachte ich, es wäre eine Begleiterscheinung eines epileptischen Anfalls, aber dieser Gedanke blitzte nur sehr kurz auf und war schon wieder in den Tiefen der Deutungsmöglichkeiten verschwunden. Wenn man etwas zum ersten Mal erlebt, also etwas, das wirklich neu ist … klar, wenn man das Leben genau betrachtet, stellt man recht schnell fest, dass alles, jeder einzelne Moment, wie schön oder beschissen er auch sein mag, neu ist, weil kein Blick dem anderen gleicht, weil kein Ablauf, auch wenn er noch so ähnlich ausgeführt werden mag, exakt dieselben Bahnen beschreibt, weil der Wind niemals gleich bläst, der Staub niemals auf dieselbe Art und Weise zu Boden fällt, man die Arme niemals völlig gleich bewegt, weil die Muskeln sich von Tag zu Tag verändern, die Zellen sich erneuern und die Gefäße im Körper sich anpassen an ein Wachstum oder ein Austrocknen oder eine Aktivität oder den Schlaf oder eine zelluläre Anpassung stattfindet an die Umwelteinflüsse, denen man ausgesetzt ist. Und vom atomaren Bereich habe ich hier noch gar nicht gesprochen. Das Zittern, das Vibrieren der Atome, es läuft niemals gleich ab, weil die Temperaturen sich stetig ändern, die Positionen sich verschieben, weil die Materialien arbeiten , je nachdem, welchen Einflüssen sie ausgesetzt sind, weil die Meere nicht stillstehen und die Platten sich ineinander verkeilen, weil die Erde bebt, weil sie lebt, weil sie durchs Weltall schießt und die Galaxie sich mit ihr dreht. Alles ist neu, auch im langweiligsten Job, in der unromantischsten Beziehung, im ereignislosesten Lebensabschnitt eines Menschen, wenn man sie sehen könnte, diese feinen Verschiebungen, dann … aber man kann sie nicht sehen.
Wenn man also etwas, das tatsächlich neu ist, zum ersten Mal erlebt, also – wenn man so will – etwas Bedeutendes, weiß man nicht, wohin damit. Bei mir war es so. Ich versuchte es einzuordnen, aber stellte sogleich fest, dass der Ordner Klaus’ epileptische Anfälle dieses Ereignis nicht aufnehmen konnte. Weil ich mittlerweile wusste, wie seine Anfälle vonstattengingen. Sie verliefen meist sehr ähnlich, damit kannte ich mich aus. Die Nervenzellen im Gehirn, erklärte mir Klaus, nachdem ich das erste Mal einen seiner Anfälle mitbekommen hatte und er wieder bei sich war, würden sich unkontrolliert entladen. Auch sein Vater sei davon betroffen. In seiner Jugend, erzählte Klaus, habe er seinen Vater gehasst. Von der Mutter hatte er die fein gezogenen Lippen, die dunklen Augen, das dichte Haar und die zierlichen Ohren geerbt, vom Vater eine Krankheit. Freilich, sagte Klaus, hatte es nicht lange gedauert und er hätte gewusst, dass diese Beschuldigungen zu nichts führten, er hätte ihm alsbald verziehen, wo es im Grunde, so sehe er es jetzt, ja gar nichts zu verzeihen gab, weil ihm sein Vater von vorneherein nichts angetan hätte, außer vielleicht die Tatsache, dass er ihm, mithilfe seiner Mutter, Leben eingehaucht hatte. Ja, murmelte Klaus, er sei ihm gegenüber nicht fair gewesen, wobei, so denke er nun, die Aufgabe eines Kindes auch nicht sein könne, fair zu seinen Eltern zu sein.
Klaus war abwesend. Manchmal nur für einen Augenblick – für einen Augenblick zu lange, würde ich meinen –, andere Male jedoch für einige Sekunden bis zu einer halben Minute, meistens aber zehn Sekunden plusminus zwei. Die Zeiten habe ich ein paar Mal mit dem Handy gestoppt, denn die Absencen kamen häufig vor, manchmal sogar mehrmals am Tag, je nachdem, ob er genug geschlafen und seine Tabletten genommen hatte. Lamotrigin, Levetiracetam, Valproinsäure, Topiramat und in Ausnahmefällen durfte es auch Ethosuximid sein, jedoch nicht mehr als zweitausend Milligramm am Tag. In einem eigenen Regal im Bad bewahrte er die Packungen auf, eine kleine Ration davon stets in seinem Rucksack. Er zeigte sie mir. Pillen in verschiedenen Größen, Formen und Farben. Bisweilen kam es mir so vor, als ob er die Medikamente nach Herzenslaune untereinander mischte, bald diese, bald jene Tablette einwarf, je nachdem, welches Verpackungsdesign ihn gerade mehr ansprach. Es sei völlig egal, sagte er mit einem Schulterzucken, wenn ich ihn darauf ansprach, die können ohne Probleme kombiniert werden. Bekam er einen Anfall, wobei ich es eher einen Ab-fall nennen würde, spielten in seinem Gehirn die Nerven verrückt, sie feuerten unkontrolliert, seine Persönlichkeit schien sich nach außen hin abzuschalten, von ihm abzufallen, das Bewusstsein entglitt ihm, Klaus war angreifbar, auf Pause.
Er hielt inne, verharrte in seiner gerade eben noch ausgeführten Tätigkeit, sein Blick meist starr auf einen Punkt fixiert, der sich, so dachte ich, irgendwo außerhalb des Raumes (außerhalb des Bewusstseins, des Universums?) befinden musste. So ist das eben bei Künstlern, könnte man meinen, sofern man ihn nicht gut kannte. Die schauen dann, auf der Suche nach einer schöpferischen Eingebung, halt schon mal für ein paar Sekunden in eine unbestimmte Ferne, und wenn sie von diesen Tagträumen zurückkehrten, sind sie inspiriert genug, um weiter an ihrem Werk zu arbeiten, es zu verfeinern, ihm den letzten (nicht selten genialen ) Schliff zu verleihen. Dazu würde dann auch das Zucken der Augenlider passen. Man könnte hineindichten, dass Klaus Ausschau hält, dass er mittels eines Supermanblicks durch die Wand vor ihm sehen könnte und dann noch durch die nächste Wand und die nächste und die nächste, und weil er dort so viel sieht, dahinter, also hinter dem Vorhang, hinter den materiellen Erscheinungen unserer Welt, könnte man fast meinen, deshalb und nur deshalb zuckten seine Lider, als ob sie das Gesehene durch diese Bewegung verarbeiten und ans Gehirn weiterleiten könnten. Das Erröten und Schwitzen, der erhöhte Herzschlag, es fügte sich stimmig in die Annahme, der Künstler sei von den Eindrücken, die er von der anderen Seite vernommen habe, gewiss derart überwältigt, dass sein Körper nicht anders könne, als zu schwitzen, dass seine Haut nicht anders könne, als zu erröten, dass, wenn man die Welt so sehe, wie sie ein echter Künstler sieht, man wahrscheinlich gar nicht anders reagieren könne, da müsse man für kurze Zeit alleine schon aus Ehrfurcht vor dem Wunder des Lebens in sich gehen, wegtreten, abschalten und – ja, wieso nicht? –, beten. So die Meinung eines Laien.
Ich solle mir keine Sorgen machen, sagte Klaus, als er meinen offenen Mund und den sorgenvollen Blick wahrnahm. Seit seiner Kindheit würden ihn die epileptischen Anfälle begleiten. Er habe Tonnen an Material darüber gelesen, habe an Selbsthilfegruppen teilgenommen, habe sich in etlichen Foren im Internet mit Leidensgeschwistern ausgetauscht, habe sich von spezialisierten Ärztinnen und Ärzten beraten lassen, sich mit einigen Studierenden der Medizinischen Fakultät unterhalten, mit anderen Worten: Er sei über seine derzeitige Lage äußert gut informiert.
Klaus gab einen Bruchteil seines Wissens über Epilepsie in einem halbstündigen Crashkurs an mich weiter. Es genügte, um meine Ängste zu besänftigen und mich mit seinen Aussetzern, die bald die spitzen Kanten des Außergewöhnlichen eingebüßt hatten, anzufreunden. Sie gehörten zu ihm, wie sein Lachen zu ihm gehörte, seine bedachte Art, den einen Fuß vor den anderen zu setzen, sein forschender, stets neugierig-kindlicher Blick.
Als ich Klaus nach den Weihnachtsferien wieder in Wien in seiner Wohnung antraf, dachte ich im allerersten Moment, sein eigenartiges Verhalten wäre die Begleiterscheinung eines epileptischen Anfalls. Von dieser Auslegung nahm ich nach einigen Minuten Abstand. Diesmal war es definitiv anders. Fast alles an Klaus war anders , verändert; er war nicht mehr das Original . Vielleicht war es in Kärnten zurückgeblieben. Vielleicht hatte jemand einen fehlerhaften Klon erstellt. Wäre es Anfang April gewesen, hätte es ein schlechter Aprilscherz sein können. Vielleicht sogar ein guter. Aber es war nicht Anfang April, sondern Anfang Januar, und es gab noch keine menschlichen Klone, zumindest keine, von denen ich etwas wusste.
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