»Und die Schuld«, fuhr sie fort, nachdem sie wieder auf dem Tisch Platz genommen hatte, »dieses Wort, ich mag es nicht. Warum sprichst du nicht von Verantwortung?«
Ich hoffte, dass dies bloß eine rhetorische Frage gewesen war, und wartete darauf, dass sie weitersprach, was sie dann zum Glück auch tat.
»Jeder Erwachsene«, sagte sie, wenn ich mich nicht täuschte, bereits leicht lallend, »sollte sich selbst gegenüber Verantwortung tragen. Bei Kindern ist das klarerweise etwas anderes. Aber bei einem Erwachsenen? Das heißt natürlich nicht«, fügte sie mit erhobenem Zeigefinger hinzu, »dass man ihnen keine Hilfe anbieten sollte. Ich selbst habe professionelle Hilfe in Anspruch genommen. In hundert Jahren – ich weiß, ich wiederhole mich –, aber in hundert oder in fünfhundert oder meinetwegen in tausend Jahren wird es völlig normal sein. Ach was, es sollte jetzt schon normal sein! Ich denke nämlich, dass es als Freund, Freundin oder Bruder, als Eltern oder als Geschwister und so weiter, ich denke, dass es da Grenzen gibt. Natürlich können wir jemandem, der Probleme mit der Bewältigung seines Lebens hat, beistehen, aber das geht meiner Ansicht nach nur bis zu einem gewissen Grad und nicht weiter. Denn sei mal ehrlich, welches Kind, auch wenn es erwachsen ist, hört schon auf seine Eltern?«
»Also ich höre auf meine Mutter«, sagte ich und fügte ein unsicheres Manchmal hinzu.
»Dann sind deine Eltern eine Ausnahme. Dann bist du eine Ausnahme.«
»Ich sagte nicht, ich höre auf meine Eltern, sondern ich höre auf meine Mutter. Mein Vater spricht nicht mehr.«
»Warum nicht?«
»Weil er damit beschäftigt ist, drei Meter unter der Erde zu liegen und zu verfaulen.«
Sie lachte. Dann hörte sie auf zu lachen.
»Schon in Ordnung«, sagte ich. »Er ist gestorben. Das passiert manchmal bei älteren Menschen, weißt du?«
In ihr Gesicht hatte sich Verwunderung gelegt, sie schüttelte den Kopf, wie um etwas loszuwerden, und schien nachzudenken. Und ich schaute ihr beim Denken zu.
»Aber was«, fragte ich schließlich, »wenn es sich umgekehrt verhält? Was, wenn du eine Ausnahme darstellst?«
Ich hätte gerne gewusst, was es mit ihrer Familie auf sich hatte, spürte aber, dass es nicht der richtige Moment war, um danach zu fragen. Im Grunde wollte ich gar nicht mehr reden. Ich wollte, ja, ich wusste längst, was ich wollte …
In diesem Moment betrat Klaus pfeifend und sichtlich gut gelaunt die Küche, in der es mittlerweile ziemlich eng und heiß geworden war.
»Ah«, sagte er, »und du bist?«
»Du kennst sie nicht?«, fragte ich. Klaus schüttelte den Kopf. »Das ist …« Da wurde mir bewusst, dass ich sie noch nicht nach ihrem Namen gefragt hatte.
»Ich bin Elisabeth«, sagte sie und streckte Klaus die rechte Hand entgegen. »Anna hat gemeint, dass es kein Problem wäre, wenn ich mitkomme. Ich nehme an, du bist das Geburtstagskind? Gratuliere!«
»Danke«, sagte Klaus und schüttelte ihre Hand. »Sie ist fein.«
»Wer?«, fragte sie. »Anna?«
»Nicht wer «, sagte Klaus grinsend, »sondern was ! Ich meine deine Hand. Es fühlt sich gut an, sie zu halten.«
Ich bildete mir ein, dass Elisabeth rote Wangen bekam, wobei es durchaus auch von der in diesem kleinen Raum stehenden feuchten Hitze herrühren konnte.
»Das ist eine ungewöhnliche Aussage«, meinte sie. »Ich nehme an, dass ich mich bedanken kann?«
»Es war nicht als Kompliment, sondern als Feststellung gemeint«, sagte Klaus trocken. »Aber natürlich kannst du dich bedanken. Nur vergiss bitte nicht: Es fühlt sich ebenso gut an, über die papierne Haut der Hände von alten Menschen zu fahren.«
»Aha«, machte sie. »Dann werde ich mich vielleicht doch nicht bedanken.«
»Wie du meinst«, sagte Klaus und ließ ihre Hand los. »Es ändert nichts daran, dass es so ist.«
Elisabeth schien sich nicht sicher zu sein, wie sie darauf reagieren sollte, und schaute mich hilfesuchend an.
»Und du, Albert?«, fragte er. »Fühlst du dich wohl?«
»Ja«, sagte ich, »sehr sogar.«
»Das freut mich«, sagte er, und zu Elisabeth gerichtet fügte er hinzu: »In einer anderen Welt würdet ihr gut zueinander passen, denn auch Albert hat eine weiche Haut. Schau doch!« Er nahm meine Hand und strich mir mit den Fingerkuppen über den Handrücken. An meinen Unterarmen stellten sich die Haare auf. Ich hoffte, dass Elisabeth es nicht gesehen hatte, und fragte mich gleichzeitig, was so schlimm daran gewesen wäre. Behutsam legte Klaus meine Hand auf Elisabeths nackten Oberschenkel, dann prostete er mir zu und schlenderte weiter ins ebenso gefüllte Schlafzimmer, wo er mit einem Happy Birthday empfangen wurde. Ich fühlte nach Elisabeths Haut. Klaus hatte absolut recht, es tat gut, sie zu berühren.
»Also das ist vielleicht ein schräger Typ«, sagte Elisabeth und deutete mit dem Daumen ins Schlafzimmer.
»Schräg«, sagte ich, »ja, das ist er. Im nicht betrunkenen Zustand ist er nicht ganz so … nun ja, er ist jedenfalls anders.« Ich überlegte fieberhaft, was ich mit meiner Hand anstellen sollte, fand aber keine befriedigende Lösung. Sie dort noch länger zu belassen, wäre komisch, sie wegzunehmen vielleicht ebenso.
»Aber was hat er mit in einer anderen Welt gemeint?«, fragte sie.
»Keine Ahnung«, sagte ich, »er redet oft verrücktes Zeug. Vielleicht habe ich ihn deshalb so gern.«
»Ach so«, sagte sie, »jetzt verstehe ich! Ihr beide seid …«
»Wie?«, schoss es aus mir hervor. »Nein, das hast du falsch verstanden!« Ohne dass ich es bewusst gewollt hätte, nahm ich die verschwitzte Hand von ihrem Oberschenkel. »Wir sind nicht«, stammelte ich, »wir sind nur … also wie soll ich das sagen?« Und da sprach ich es das erste Mal laut aus: »Er ist mein allerbester Freund, nichts weiter.«
»Ach so«, sagte sie, »na dann.«
»Na dann«, wiederholte ich, verspürte den Drang, etwas zu unternehmen, aber verharrte, als wäre ich plötzlich gelähmt, in meinen Bewegungen. Wir saßen nebeneinander, schauten eine Zeit lang geradeaus und sagten nichts. Ich fühlte mich peinlich berührt und fragte mich weshalb. Es gab nichts, sagte ich mir, wofür ich mich schämen müsste. Etwas knackte in meiner rechten Schulter. Ich interpretierte es als willkommenes Zeichen, nahm einen kräftigen Schluck vom Getränk, dann noch einen, und da ich nach wie vor zu wenig Mut für den nächsten entscheidenden Schritt in mir finden konnte, nahm ich noch einen allerletzten Schluck und dann, weil noch einer da war, noch einen. Nachdem ich das Glas geleert hatte, wendete ich meinen Oberkörper und mein Gesicht zu Elisabeth und sagte: »In Wahrheit fühle ich mich von Frauen angezogen, die … die kurze braune Haare haben. Und dunkle Augen. Und genauso eine Brille tragen, wie du sie auf deiner Nase sitzen hast.« Da sie nicht reagierte und ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, sprach ich weiter: »Und im Speziellen stehe ich auf Frauen, die sich am Oberschenkel so anfühlen, wie du dich anfühlst und die genauso eine Stimme haben wie du …« Sie führte ihre Handfläche zu meinem Mund. Sie schaute mich an. Es fühlte sich an, als würde sie mich etwas fragen, auf das ich keine Antwort wüsste, während ich in ihrem Gesicht nichts anderes als unlösbare Rätsel zu erkennen glaubte. Ein paar Sekunden später nahm sie die Hand von meinem Mund, wandte den Blick ab, richtete ihn auf ihr Getränk und trommelte mit den Fingernägeln gegen das Glas.
»Komm mit«, sagte sie auf einmal und schwang sich locker vom Tisch.
»Wohin?«
Sie lächelte mich an.
»Komm einfach mit.«
Sie streckte ihre Hand nach mir aus. Ich ergriff sie und folgte ihr ins Wohnzimmer. Der Pegel der Musik war inzwischen merklich angestiegen, die Bässe versetzten meinen Brustkorb sanft in Schwingung. Mein Herz, das spürte ich, schlug deutlich schneller als der Beat. Und wir tanzten, ohne uns zu berühren. Und wir tanzten und berührten uns. Und wir berührten uns, ohne zu tanzen.
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