»Ja, das habe ich.«
»Hattest du vor, ihn zu töten?«, fragte er.
»Nein. Aber er bettelte förmlich darum.«
Sie hatte sich sehr verändert, seit Nick sie das erste Mal traf. Zwei Jahre im Dienste des PROJECTS hatten einen Großteil ihrer Bedenken ausgeräumt, anderen Menschen wehzutun, die das Gleiche mit ihr vorhatten. Es war eine Frage des Überlebens. Man durfte nicht zögern. Der zweite Mann hatte gezögert, und deshalb lag er jetzt tot vor ihnen.
»Wir sollten besser verschwinden«, schlug Nick vor.
»Sollten wir nicht weitersuchen?«
»Wenn etwas hier war, haben sie es bereits gefunden.«
»Und was ist mit ihr?«
Die Putzfrau war bewusstlos, ihr Gesicht blutverschmiert.
»Sie kann hier aufräumen.«
Sie stiegen in ihren Wagen und fuhren davon.
Nick träumte.
Er ist wieder in dem Dorf, wo ein Kind sterben wird. Auf der rechten Seite befinden sich die Häuser mit den flachen Dächern, die sich für seine Marines in Plattformen des Todes verwandeln würden. Auf der linken Seite noch mehr dieser Häuser und ein Flickenteppich aus wackligen Hütten und herunterhängenden Stofffetzen, die einen Markt darstellen sollen. Fliegen surren in Schwärmen um das Fleisch, das im Stand des Metzgers hängt.
Er hört ein Baby weinen. Er hört immer ein Baby weinen, irgendwo in einem dieser Häuser. Ein leises, angsterfülltes Jammern. Die Straße ist verlassen.
Dann tauchen die Feinde auf den Dächern auf und eröffnen das Feuer, so wie immer. Die Marktbuden verwandeln sich in einen Feuersturm aus Holzsplittern, und Putz und Mauerwerk explodieren aus den Wänden der Gebäude, so wie immer.
Ein Kind stürmt aus einem der Häuser und schreit, dass Allah groß sei. Der Junge kann nicht älter als zehn oder elf Jahre sein. Er reißt seinen Arm zurück und wirft eine Granate. Nicks Gewehr zuckt gegen seine Schulter, feuert eine 3-Schuss-Salve ab, und das Gesicht des Jungen verschwindet in einer Wolke aus Blut. Die Granate fliegt wie in Zeitlupe durch die Luft … und dann wird alles weiß …
»Nick!«
Selenas Stimme weckte ihn auf. Sie befanden sich in ihrem Hotelzimmer in Paris. Er setzte sich auf. Sein Herz klopfte so stark, als wollte es durch seinen Brustkorb brechen. Er wischte sich mit der Hand über sein Gesicht, rieb sich die Augen. Die Träume kehrten seit der Attacke auf das alte PROJECT-Hauptquartier nun häufiger zurück. Immer wieder eine Variation jenes Tages, an dem er beinahe ums Leben gekommen wäre. Jener Tag, an dem er ein Kind erschoss.
Selena stand nackt neben dem Bett. Sie sah nicht besonders glücklich aus.
»Wieso liegst du nicht im Bett?«
»Du hast im Schlaf um dich geschlagen und mich getroffen. Ich bin dir ausgewichen.«
»Oh verdammt. Tut mir leid.«
»Du musst etwas dagegen unternehmen. Es wird immer schlimmer. Darüber haben wir schon gesprochen. Du musst dir helfen lassen.«
Nick schwieg.
»Ich weiß, dass du nicht mit einem Therapeuten sprechen willst. Aber du musst es tun. Für uns beide. Du musst jemanden aufsuchen.«
»In Ordnung. Ich denke darüber nach.«
Sie setzte sich auf die Bettkante. »Versprich es mir, Nick. Versprich mir, dass du dir helfen lässt.«
»Ich sagte, ich werde darüber nachdenken.«
»Versprich es mir.«
In ihrer Stimme lag eine unausgesprochene Warnung.
»Okay«, versicherte er ihr. »Ich mach’s. Wenn wir wieder zurück sind.« Er sah auf die Uhr. »Es ist noch zu früh, um aufzustehen.«
Sie rückte an ihn heran. »Wir müssen noch nicht aufstehen.«
Sie berührte sein Gesicht, strich mit den Fingern über seine Bartstoppeln.
»Ich glaube nicht, dass ich wieder einschlafen kann.«
»Wir brauchen ja nicht zu schlafen.«
Selena ließ ihre Hand an seiner Seite hinuntergleiten und spürte die alten Narben, die Vermächtnisse der Kriege, die seinen Körper bedeckten.
»Außerdem muss ich nicht mehr in Deckung gehen, wenn du nicht schläfst.«
Er sah in ihre Augen, spürte die weichen Rundungen ihrer Hüften.
Später schliefen sie noch einmal ein.
Nick und Selena nahmen eine Maschine der Air France von Paris nach Amman in Jordanien, mieteten sich am Flughafen einen Landrover und fuhren zur amerikanischen Botschaft. Harker hatte dafür gesorgt, dass die Botschaft in Paris sie mit Waffen ausstattete. Einer jener Fälle, in denen sich Diplomatengepäck als nützlich erwies.
Sie nahmen die Waffen an sich und fuhren zu ihrem Hotel. Es befand sich auf dem höchsten Berg in Amman und bot einen spektakulären Ausblick über die Stadt. Hohe romanische Säulen stützten die Fassade. Eine Reihe von Palmen säumte die Straße vor dem Hotel. Die Mitte der Eingangshalle war von einem riesigen Arrangement aus violetten und weißen Blumen geprägt. Es war die Sorte von Hotel, welche ganz aus Marmor und Holz zu bestehen schien und einem das Gefühl vermittelte, man wäre ein Millionär. In Selenas Fall stimmte das sogar. Der Tod ihres Onkels vor zwei Jahren hatte sie zu einer reichen Frau gemacht.
Am nächsten Tag brachen sie zum Berg Nebo auf, vierzig Kilometer südlich von Amman. Die Straße nach Süden war asphaltiert und hauptsächlich mit schweren Lastwagen dicht befahren. Der Land Rover rollte ruhig über den Straßenbelag dahin.
Der Tag war heiß und klar. Direkt hinter der Stadt erstreckte sich die Wüste in alle Richtungen, eine karge Landschaft aus Sand und Felsen, die unter der Hitze der grellen Sonne flackerte. Selena trug einen luftigen blauen Schal um ihren Hals und eine weiße Baumwollbluse, die sich von ihrer gebräunten Haut abhob. Eine braune Ledertasche hing an ihrem Gürtel. Ein wadenlanger Baumwollrock und Wanderstiefel rundeten ihr Outfit ab. Die Waffe hatte sie in der Ledertasche verstaut. Ihre veilchenblauen Augen waren hinter einer dunkelbraunen Sonnenbrille verborgen. Der Fahrtwind, der durch das geöffnete Fenster hereinwehte, wirbelte ihr Haar durcheinander.
Nick hatte sich für Jeans, ein kurzärmeliges Hemd und ein leichtes Jackett entschieden, das sein Holster verbergen sollte. Gegen das unbarmherzig grelle Licht trug er eine Ray-Ban-Sonnenbrille. Die Luft roch nach Wüste, trocken und rein. So roch es hier wahrscheinlich auch schon zu Moses Zeiten, dachte er.
»Wir befinden uns tief im Herzen des Alten Testaments«, erklärte Selena. »Man nimmt an, dass Moses an unserem Ziel begraben liegt, auf dem Berg Nebo. Die ganze Gegend wurde jahrhundertelang erbittert umkämpft. Von den Israeliten, den Moabitern, den Ammonitern, den Byzantinern und den Nabatäern.«
»Man fragt sich, wieso«, sagte Nick. »Wer will so etwas haben? Das ist ein trostloser Flecken Erde. Sieh es dir doch nur an. Sand, Felsen, Sonne. Ich meine, die nächste Wasserquelle ist das Tote Meer! Erinnert mich an Teile von Utah oder Nevada.«
»So etwas wie Las Vegas wirst du hier aber nicht finden«, antwortete sie.
Sie bogen westlich nach Madaba ab, eine Stadt, die für ihre prächtigen byzantinischen Mosaike berühmt war. Von hier aus waren es noch einmal zehn Kilometer bis zum Berg Nebo. Die Straße, die den Berg hinaufführte, war in einem Fischgrätenmuster aus graublauen und hellen Steinen gepflastert und zu beiden Seiten von steinernen Einfassungen und hohen Eukalyptusbäumen gesäumt.
Sie waren an einem der berühmtesten Orte der Bibel angelangt.
Sie stellten ihren Wagen ab und liefen den Rest zu Fuß, bis hinauf zum Gipfel, wo im vierten Jahrhundert nach Christus eine Kapelle zum Gedenken an den Tod Moses errichtet worden war. Zwei Jahrhunderte später war daraus eine byzantinische Kirche geworden. Nun war es ein franziskanisches Kloster und erklärtes Hassobjekt muslimischer Extremisten. Die neue Gedächtniskirche war als Zuflucht über den Ruinen der alten Kapelle errichtet worden.
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