Es ging Lukas Bärfuss nicht um Meienberg. Es ging ihm um die Gesellschaft, die ihn umgab, ihre Hilflosigkeit im Umgang mit diesem Menschen, mit der Abweichung von der Norm und ihre Hilflosigkeit im Umgang mit den eigenen Überzeugungen, es ging ihm um sich als Teil von ihr.
Lukas Bärfuss selbst ist alles andere als ein Pöbler. Es handelt sich bei ihm vielmehr um einen Menschen, der seine Worte mit großer Bedachtsamkeit abwägt, der langsam spricht, den Gedanken ertastend, dem Gewicht des einzelnen Ausdrucks nachspürend, der keinen Satz zu viel sagt und keinen zu wenig, dessen Äußerungen druckreif sind.
Seine Behutsamkeit resultiert aus seinem distanzierten Verhältnis zur Sprache, die er zuallererst als Beobachtungsfeld, als gesellschaftlichen Raum begreift. Es gibt ja keine Sprache außerhalb der Diskurse, keinen Ort, an dem sie dem permanent drohenden Konformismus mit der Macht entgehen würde. Es gibt sie nicht, heißt das also, die eigene Sprache. Sie ist immer fremd, immer Konvention. Dieser durchaus schmerzlichen Nichtverfügbarkeit für das Eigene liegt die Erfahrung des Einzelnen zugrunde, in seinen Empfindungen und Triebfantasien sprachlos zu sein.
Daher schaut Bärfuss in seinen Texten auf den Ausstoß unserer Gesellschaft, ihre öffentliche Rede, ihre Festlegungen, ihre Argumentationslinien und sucht dabei nicht das Geheimnis hinter den Dingen, sondern darin, wie sie sich dargestellt wissen wollen. Er erforscht das systematisch. Zuerst im Theater.
Nicht umsonst zählt er unterdessen zu den wichtigsten und erfolgreichsten Dramatikern, die wir haben – er wird hierzulande und auch international gespielt. Er sucht die Bühne auf als öffentlichen Ort für Experiment und Erfahrung. Sowohl im Theater als auch in der Gesellschaft geht es um Zuschreibungen, Verabredungen, Akzeptanz – und um Verwandlung. Daher bietet es die einzigartige Möglichkeit, die Mechanismen des menschlichen Zusammenlebens zu untersuchen. In der Öffentlichkeit, als gemeinsames Erlebnis, als geteilte Erfahrung.
Zuerst unser Verhältnis zur Sprache: So wie die Schauspieler fremden Text lernen, um sich auszudrücken, so tun wir das außerhalb der Bühne auch. Wir sprechen eine Sprache, die bereits definiert ist, in die wir hineingeboren wurden. Diese Künstlichkeit betont Bärfuss. Die Sprache, die seine Figuren sprechen, ist klar und grundsätzlich. In der Erarbeitung während der Proben erweist sich: Es ist kaum möglich, sie sich improvisierend anzueignen, jedes hinzugefügte Wort, jedes Füllsel stört. Umformulierungen rächen sich spätestens im Folgesatz, Auslassungen auch. Bärfuss verweigert zudem die psychologische Ausstaffierung seiner Figuren. Er hält das nicht für wirksam. Es würde auch ablenken vom Wesentlichen, nach dem er sucht.
So hält er auch die Szenen seiner Stücke knapp, sie gleichen Tableaus, die unaufgeregt, sachlich, einen Konflikt zur Betrachtung freigeben. Oberflächlich haben Bärfuss’ Texte tatsächlich einen undramatischen Duktus. Doch in den Zwischenräumen brodelt es. Die Problematik, die sich in ihnen sukzessive auseinanderfaltet, zielt auf die Kernfragen der Moderne: Wie lieben, wie sterben, wie glauben wir, wie erinnern wir, wonach richten wir uns in unserer säkularisierten Gesellschaft, deren höchster Glaubensartikel der freie Wille ist, die persönliche Freiheit? Bärfuss begegnet diesen Fragen dialektisch, mit einem Denken, das gerade das Aufdecken von Ambivalenzen und Widersprüchen zum leitenden Motiv hat. Die Sachlichkeit im Duktus löst interessanterweise Aggressionen aus. Oftmals fühlt sich das Publikum provoziert, weil es gewahr wird, dass uns die Ideen, die wir uns über uns als Gesellschaft gemacht haben, am Ende nichts nützen werden.
Tatsächlich zielen Bärfuss’ Stücke auf Erkenntnisgewinn. Sie gleichen Laborversuchen. Er steckt sich jeweils ein Untersuchungsfeld in Raum und Zeit ab, so groß beziehungsweise so klein, dass es die Beobachtung zulässt. Er nimmt das Einzelne, Konkrete und studiert seine Voraussetzungen. Er lässt sich nicht täuschen von den unausgesprochenen Übereinkünften, die das geheime Regelwerk unseres Zusammenlebens ausmachen. Gerade sie sind es, die er untersucht – immer auch, um herauszufinden, wo er selbst sich befindet. Sein Blick ist dabei durchaus ein liebender, ein faszinierter. Er staunt darüber, wie unsere Gesellschaft funktioniert, mehr noch: er staunt darüber, dass dieses überaus komplexe Gefüge überhaupt funktioniert. Dieses Staunen verdankt sich dem Blick für die Gefährdung. In ihr entdeckt er enormes dramatisches Potenzial. Und darum baut dieser Dramatiker die Ausgangssituation seiner Stücke auch sehr präzise. Er fängt den Moment ein, in dem das Gleichgewicht kurz davor ist aus dem Lot zu fallen. »Mit den ersten Repliken sollte das Stück determiniert sein«, ist er überzeugt. »Der Stein ist geworfen und ich muss nur noch schauen wie er fällt.«
Im Zentrum vieler seiner Stücke stehen Figuren, die noch nicht in der Welt angekommen sind. Ist man ihnen einmal begegnet, verlassen sie einen nicht mehr. Und zwar nicht, weil sie einem so nahe gekommen wären, sondern weil man sich in ihrer Gegenwart fremd geworden ist. Die eigene Fremdheit in der Welt wird bewusst, die Fragilität, die dem sozialen Zusammenhang innewohnt.
Da ist zum Beispiel Dora aus »Die sexuellen Neurosen unserer Eltern« – sie soll hier beispielhaft für andere stehen. Dora ist jenes Mädchen, das ein Haarbreit nur neben unserer Welt liegt. Sie ist nicht ganz richtig im Kopf. Ihre Mutter möchte ihr zukünftig ohne Sedierung durch Medikamente begegnen. Damit fängt das Stück an. Was folgt, ist der schwierige Prozess einer Menschwerdung. Da Dora nicht in den Rastern der normalen Kommunikation funktioniert, Situationen nicht antizipieren kann, entwickelt sie ein System sprengendes Potenzial, das selbst die liberalste Gesinnung überfordert. In der Folge erlebt sie, dass sie nicht frei über sich verfügen kann und man entdeckt, dass es einem selbst letztlich auch so ergeht, weil sich erst durch persönlichen Verzicht, durch Unterwerfung in einer Gesellschaft leben lässt. Sozialisation, das zeigt dieses Stück, lässt sich nicht lehren, nur lernen. Wir fühlen uns provoziert, weil der Diskurs, den wir zu führen gewohnt sind, in den konkreten dargestellten Situationen versagt. Unser Selbstbild kollidiert mit unserem Handeln. Und anders als unser liberales Selbstverständnis behauptet, sehen wir auch, dass wir nicht in der Lage sind, Widersprüche auf lange Sicht zu ertragen. Wir sehen uns stattdessen mit der Frage konfrontiert, was schließlich passiert, wenn die Geschichte, die wir uns von uns erzählen, nicht passt, wenn wir gewahr werden, dass die fremdeste Geschichte von allen diejenige ist, von der wir glauben, es ist die eigene. Die Antwort ist, so die Beobachtung: Gewalt. Gewalt, die Anpassungsprozesse erzwingt.
Lukas Bärfuss zeigt in seinen Stücken keine Fälle – das ist manches Mal ein Missverständnis –, sondern protokolliert, welches Gesicht sich ein Problem in der öffentlichen Diskussion gibt. Und er protokolliert das Dilemma, in das sich unsere Gesellschaft hineinmanövriert mit ihrem unaufhaltsamen Bestreben, für alles eine Lösung zu finden. Darin steckt die befreiende Komik seiner Texte. Das Lachen ist ihm wichtig. Als revolutionäre Kraft und als erkennende.
Da Dichtung – Schreiben und Sprechen überhaupt – nicht denkbar ist ohne ihre Prägung durch das konkrete Subjekt in seinem Gezeichnetsein durch die ihm eigene Erfahrung, erlauben Sie mir bitte einen kurzen Exkurs in seine Biografie: Lukas Bärfuss ist 1971 in Thun, einer kleinen Garnisonsstadt in der Schweiz, geboren. Die Familienverhältnisse waren schwierige, die Schulzeit ungeliebt und kurz, er lebte zuweilen auf der Straße, lebte vom Mundraub. Tätigkeiten als Gabelstaplerfahrer, Eisenleger, Gärtner und Lohnarbeiter eines Tabakbauern stehen in seinem Lebenslauf. Aber es ist nicht geraten, diese Zeit zu stilisieren. Die Arbeitsbereiche für einen Ungelernten waren der Not geschuldet. Schließlich – ein Märchen: Ein Mitarbeiter einer Entrümpelungsfirma überließ dem Obdachlosen das Lexikon eines Verstorbenen, dessen Haushalt gerade aufgelöst wurde.
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