Paul versteht nicht, wie man immer denselben Rhythmus, immer dieselben Tonfolgen als angenehm, geschweige denn ästhetisch empfinden kann. Seine frühere Begeisterung für Kraftwerk versteht er selbst nicht mehr. Jetzt würde er gerne mal wieder ein Konzert erleben mit leibhaftigen, wahren Musikern, denen Partituren durch die Adern fließen.
Immerhin hat er seinen Walkman. Ein allerdings zwiespältiger, ja paradoxer Besitz. Er lässt ihn entfliehen in erhabenere Sphären, in die luftige Welt der Fugen und Kantaten, der Rondos und Suiten. Allerdings rufen die Violinen und Celli, die Oboen und Hörner, rufen Klavier und Pauke zu viele Erinnerungen hervor, die er eigentlich vergessen will.
Sie saßen in Vaters Zimmer, einem großen, holzgetäfelten Raum, in den er sich zum Lesen und Musikhören zurückzog. Außerdem gab es einen antiken Schachtisch mit passenden Sesseln, an dem er einmal die Woche mit einem Freund vor sich hinbrütete. Paul hätte ihnen auch länger zugesehen, wenn ihn das lange Schweigen nicht so verunsichert hätte. In die Bücherwand war eine Musikanlage integriert, das Beste, was Bang und Olufsen zu bieten hatten. Gegenüber stand ein großes, bequemes Sofa, in dem Paul und sein Vater saßen, die Augen geschlossen, versunken in der Welt der Zauberflöte .
Am Ende von Papagenos Vogelfänger-Arie hielt sein Vater die CD an.
»Weißt du, warum diese Arie so beliebt ist?«
»Ich weiß nicht, sie klingt irgendwie lustig. Und nicht so schwer wie andere.«
»Da hast du es schon gut getroffen. Diese Arie ist ein treffliches Beispiel für Mozarts Kompositionen. Schlichtes und Kunstfertiges fließen harmonisch ineinander und verzaubern uns. Vordergründig ist sie sehr einfach, ein Volkslied eben. Da ist diese eingängige Melodik, in Sekundenschritten, alles wird syllabisch deklamiert, es gibt keine Melismen, keine Mollabweichungen, alles scheint einfach gehalten. Aber gleichzeitig ist die Arie dreischichtig komponiert: Da gibt es zunächst die Violine und die Singstimme, dann die Begleitstimmen, und drittens den Bass und die Hörner, abtaktig, in 2-Takt-Gruppen. Zudem ist jeder 2-Takt anders gestaltet. Achte einmal darauf! Wir hören sie uns jetzt noch einmal an.«
Paul konnte seinem Vater nicht immer folgen, hatte aber dennoch das Gefühl, mit seiner Hilfe immer tiefer in die Musik einzudringen, sie besser zu verstehen, anders zu hören. Und so war er mit zwölf Jahren bestens vertraut mit den meisten Komponisten, mit Mozart, Brahms und Berlioz, und vor allem mit den Lieblingen seines Vaters, mit Bach, Tschaikowski und Wagner.
Für seine Eltern war es selbstverständlich, dass Paul auch ein Instrument lernen sollte, also bekam er Geigen- und Klavierunterricht, aber Paul, obwohl er beide Instrumente bald leidlich beherrschte, verlor schnell das Interesse; nicht aus genereller Abneigung – im Gegenteil, diese herrliche Musik auch selber produzieren zu können erfüllte ihn mit Stolz und innerer Zufriedenheit – sondern wegen des enormen Zeitaufwandes, den der Unterricht und die Übungen zu Hause in Anspruch nahmen, Zeit, die ihm für anderes wichtiger erschien.
Das Studium absolvierte er in der Regelstudienzeit, ohne sich in seiner Studentenbude verkriechen zu müssen. Er hatte ein paar Freunde und Bekannte, genoss das Nachtleben, verlor aber nie das Examen aus den Augen, das er so schnell wie möglich machen wollte. Lernen machte ihm Freude, aber er konnte es nicht erwarten, sein Wissen auch anzuwenden.
Genauso klar war für ihn, dass er mit Abschluss seines Studiums seine Jugendfreundin Tanja heiraten würde. Das erste Kind wollten sie erst, wenn er sich beruflich etabliert hatte. Ein Jahr, nachdem er die feste Anstellung bei Hoch- und Tiefbau Kröner bekommen hatte, kam Melanie zur Welt. Ein weiteres Jahr später scheiterten Tanjas Versuche, wieder schwanger zu werden, und als Paul sich mit seinem Statik-Büro selbständig machte, stellten sie das zweite Kind erst einmal zurück. Als sie es noch einmal versuchen wollten, schlug das Schicksal zu.
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