Doch dann kam mir der Ausspruch meines Vaters in den Sinn: „Du ziehst Leute mit Problemen an wie das Licht die Motten! Du musst lernen, dich abzugrenzen. Du kannst nicht jedem helfen.“ Wie recht er hatte. Sollte ich mir Frau Baumann nicht lieber vom Hals halten? Sie tat mir zwar leid, aber ich könnte sie ja zum Bordarzt bringen, der sicher Übung im Umgang mit einsamen Herzen hatte, und dann in meiner Kabine verschwinden.
Immer mehr Tränen rannen das Gesicht von Frau Baumann hinunter und hinterließen schwarze Spuren der Wimperntusche. Mehr und mehr löste sich ihre sorgsam aufgebaute Fassade vor meinen Augen auf. Dahinter kam eine Frau zum Vorschein, die sich nach zwei gescheiterten Ehen nur nach einem sehnte: Liebe, weil sie lediglich ihres Geldes wegen geheiratet worden war. Ich saß einer Frau gegenüber, die alles hatte – und doch nichts, was das Leben lebenswert macht, weil man sich mit Geld keine Geborgenheit, keine Zuneigung, keine Freunde kaufen kann.
Doch ich war immer noch nicht bereit, mir einen Strich durch mein Weihnachtsfest machen zu lassen. Aber was bedeutete Weihnachten eigentlich? Jesus kam auf die Erde, um sich um das Elend der Menschen zu kümmern. Das kam ihm sicher auch nicht immer gelegen. Trotzdem wies er nie einen Menschen ab.
Ich wusste, wenn ich Frau Baumann irgendwie abwimmelte, würde ich mich den Rest des Tages schäbig fühlen. Aber ich hatte mir meinen Urlaub doch ganz anders ausgemalt – und mein Weihnachtsfest erst recht!
Ich atmete tief durch. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag“, begann ich. „Wenn Sie möchten, treffen wir uns in drei Stunden im Restaurant und lassen uns unser Weihnachtsmenü schmecken. Was halten Sie davon?“
„Eine ganze Menge“, lächelte Frau Baumann mich durch einen Tränenschleier an.
„Was ist mit den Kopfschmerzen?“, fragte ich Frau Baumann, als wir uns zum verabredeten Zeitpunkt zum Essen an den festlich geschmückten Tisch setzten.
„Die sind weg“, berichtete sie fröhlich. „Ach, ich bin ja so froh, dass Sie diesen Abend mit mir verbringen“, fuhr sie fort und drückte meine Hand. Aus den Lautsprechern drang leise die Melodie von „Jingle Bells“.
„Als ich ein Kind war“, sagte sie nachdenklich, „da war Weihnachten was Wunderschönes. In der Mitte unseres Wohnzimmers stand der Tannenbaum, den ich mit meinem Vater wie jedes Jahr in einem unserer Wälder ausgesucht hatte. Bedienstete schlugen ihn und stellten ihn auf, aber das Dekorieren hatte Vater sich nie nehmen lassen. Übrigens waren unsere Weihnachtsbäume alle viel schöner als der da draußen“, ergänzte sie und deutete auf die mit bunten Kugeln behängte künstliche Tanne vor dem Restaurant. „Das ist für meinen Geschmack nur Firlefanz – und von Weihnachten ist außer dem Baum und einigen Girlanden im ganzen Schiff ja nichts zu merken. Jedenfalls“, fuhr sie nach ihrem kleinen Exkurs fort, „gingen wir Heiligabend immer zusammen in den Gottesdienst. Wieder zu Hause setzte sich Mutter vor der Bescherung ans Klavier und wir sangen Weihnachtslieder. Ja, das war schön.“ Frau Baumann schwelgte in Erinnerungen.
„Als ich erwachsen war“, nahm sie den Faden wieder auf, „war es nie mehr so schön, auch deshalb, weil ich selbst keine Kinder hatte. Weihnachten ist wohl nur ein Fest für Kinder.“
„Nein, es ist ein Fest für uns alle!“, hakte ich ein.
Und dann erzählte ich Frau Baumann, dass Jesus Mensch geworden ist, um uns zu zeigen, wie sehr er jeden Einzelnen von uns liebt. Wie sehr ihm unser Glück am Herzen liegt. Wie nah er uns sein möchte, damit wir uns nicht einsam fühlen müssen.
„Das Kind in der Krippe streckt jedem die Hand entgegen. Wer sie erfasst, wird dieses Wunder erleben. Dann wird wirklich Weihnachten, auch bei uns“, endete ich.
„Das habe ich so noch nie gehört“, sagte Frau Baumann bewegt.
„Was halten Sie davon, wenn wir zum Abschluss des Tages den ökumenischen Gottesdienst besuchen? Dann singen wir sicher Weihnachtslieder, die Sie noch von früher kennen“, schlug ich vor.
„Das ist eine gute Idee“, pflichtete Frau Baumann mir bei.
Wir sangen tatsächlich Lieder, die Frau Baumann aus ihrer Kindheit kannte. Sie war überglücklich, als wir uns schließlich voneinander verabschiedeten.
Und ich? Ja, der Tag war anders verlaufen als ich ihn geplant hatte. Ganz anders. Aber ich war zum Schluss glücklich, dass ich jemandem etwas davon weitergeben konnte, worum es an Weihnachten eigentlich geht.
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