»Mal langsam mit den jungen Pferden, Billy-Joe.« Doch Billy-Joe dachte gar nicht daran. Mit seiner freien Hand schnappte er sich das Reagenzglas und hielt es sich aufgrund seiner schwächer werdenden Sehkraft ganz nah vor das Gesicht, dann schüttelte er das Fläschchen heftig und kam schließlich ebenfalls zu dem Schluss, dass Jimmy Ray recht hatte. Das Fläschchen war leer, also gab er es ihm enttäuscht zurück.
Jimmy Ray kehrte mit dem Fläschchen zum Tresen zurück, warf den Wischlappen beiseite, fummelte an der Plastikkappe herum und kratzte schließlich die Versiegelung ab, bis sich die Kappe löste. Danach schüttete er das Fläschchen über seiner linken Handfläche aus. Aber es kam nichts heraus. Das Röhrchen war tatsächlich leer. »Dachte ich mir schon«, sagte er. »Das Ding ist so leer wie dein Schädel, Billy-Joe.«
»Das ist ja wirklich mal ein Wahnsinns-Trinkgeld, Jimmy Ray.« Die Bemerkung von Billy-Joe löste schallendes Gelächter bei seinen Brüdern aus. »Ein Wahnsinns-Trinkgeld. Hab dir ja gesagt, dass es leer ist.«
Aber Billy Ray lag falsch. So falsch wie noch nie zuvor in seinem Leben.
Denn das Fläschchen, welches Jimmy Ray gerade achtlos in den Müll geworfen hatte, enthielt mehr Dämonen als die Büchse der Pandora.
Bensenville, New Mexico
13:34 Uhr
Als der Pick-up-Truck auf die Zufahrtsstraße nach Bensenville einbog, bemerkten die beiden Brüder Dana und Andrew – von denen Andrew zwölf Jahre älter war – sofort den aschfarbenen Staub, der sich wie feines Talkumpuder über die gesamte Landschaft, den Boden, den Springbrunnen und die Dächer herabgesenkt hatte. Winzige graue, an Ascheflocken erinnernde Partikel fielen wie Schneeflocken träge von einem wolkenlosen Himmel herab und sammelten sich auf der Windschutzscheibe, was Andrew dazu veranlasste, den Scheibenwischer einzuschalten, der die Asche aber nur in zwei Halbkreisen auf der Scheibe verschmierte und ihnen schließlich die Sicht versperrte.
Auf der kleinen Anhöhe angekommen, lenkte der Fahrer den Wagen zu dem Springbrunnen, stieg aus dem Pick-up und stellte fest, dass der Schafbock, den sie am frühen Morgen geschossen hatten und der nun auf der Ladefläche lag, ebenfalls ergraut war und seine bräunliche Färbung komplett verloren hatte. So stark war der seltsame Niederschlag.
Andrew schaute in den Himmel hinauf, sah aber keine einzige Wolke, von der dieser seltsame Ascheregen hätte stammen können. Der Himmel war blau und wolkenlos, soweit das Auge reichte und doch trieben seltsame Flocken durch die Luft.
Dana, ein junger Mann im Teenageralter mit einem Gesicht voller Pickel, die jeden Moment aufzuplatzen drohten, wischte sich seine Finger an seiner Kleidung ab, die bereits ebenfalls grau zu werden begann. »Was geht denn hier vor, Andy?«, fragte er verunsichert.
Andrew, der immer noch in den Himmel starrte, schüttelte verwundert den Kopf. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. Während er gedankenverloren dastand, fielen Flocken auf seinen Kopf und verwandelten sein tiefschwarzes Haar in ein aschfarbenes Grau.
Er ließ seinen Blick über die Stadt schweifen und stellte fest, dass wirklich alles mit Asche bedeckt war, einschließlich der gesamten Landschaft. Die beiden ließen ihren Truck am Springbrunnen zurück und begaben sich ins Jimmy Ray’s . Auf ihren Weg dorthin hinterließen sie deutlich sichtbare Fußspuren in der angesammelten Schicht, die so fein wie Mondstaub beschaffen war.
Im Inneren der Bar bot sich ihnen das gleiche Bild – Tische, Stühle und der Tresen waren mit grauer, toter Asche bedeckt.
Auch die Luft war mit dem feinen Staub durchsetzt, der träge umherwirbelte und einen an Nebel erinnernden Schleier bildete.
An einem Tisch zu ihrer Rechten befanden sich drei leblose Körper, die über einem Glas Bier zusammengesunken waren. Ihre Kleidung schien irgendwie zu groß für sie zu sein und hing über ihren Leibern wie riesige Decken. Als sich Andrew dem Tisch näherte, wurde ihm bewusst, dass mit der Haut an ihren Händen irgendetwas nicht stimmte. Sie wirkte irgendwie alt und faltig, so als würden die Knochen darunter fehlen. Unter den Leibern hatten sich Lachen einer dunkelroten Flüssigkeit gebildet, die ihnen offenbar aus allen Körperöffnungen rann. Sie waren regelrecht ausgeblutet und der Gestank war einfach überwältigend, er erinnerte an eine Jauchegrube an einem heißen Sommertag.
»Andy …« Doch Dana sprach nicht weiter, denn er spürte instinktiv, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging.
Andrew hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen.
Dann trat er vorsichtig ein paar Schritte näher an die Männer heran und sah, dass sich die Körper unter ihrer Kleidung aufgelöst hatten. Ihre Arme und Beine waren kaum noch dicker als Besenstiele, und als er in ihre Gesichter blickte, drehte sich ihm komplett der Magen um. Denn unter ihren Haaren schienen die Schädel die Konsistenz von Ton angenommen zu haben. Die ursprünglich scharfen Gesichtszüge waren unter ihrer Haut dahingeschmolzen wie flüssiges Wachs. Ihre Gesichter waren auf eine furchtbare Art und Weise entstellt und vollkommen unsymmetrisch. Die Augen befanden sich nicht mehr auf gleicher Höhe und ihre Münder waren verzerrt, was ihnen den Anschein verlieh, als würden sie ihn hämisch angrinsen.
Andrew wich panisch zurück, ohne den Blick von den Leichen abzuwenden, dann wirbelte er auf den Fersen herum und stürmte aus der Bar hinaus, während Dana ihm noch etwas hinterherrief.
Die Toten in der Bar grinsten weiter vor sich hin.
Saint Viators-Church, Las Vegas, NV
15:47 Uhr
Am selben Tag, als eine kleine Stadt auf grauenvolle Art vom Tod heimgesucht wurde, stellte Kimball Hayden einen neuen Opferstock fertig. Dieser hatte die Maße einer Brotbox, mit abgerundeten Ecken, polierten Messingscharnieren, einem Schließband und mehreren Schichten einer Kirschholzpolitur, die ihr ein glänzendes Aussehen verlieh. Mit dem Geld, das er als Tagelöhner verdiente, hatte er diese Kiste mit außergewöhnlichem handwerklichem Geschick gefertigt und genauso viel Liebe und Anstrengung hineingesteckt wie er es als Teamleiter der Vatikanritter getan hätte, die er so schmerzlich vermisste.
Es war nun schon einige Monate her, seit er sein Team das letzte Mal angeführt hatte – in Frankreich, wo sie einen skrupellosen Menschenhändler namens Jadran Božanović hatten aufspüren sollen. Doch am Ende, als das Ziel ihrer Mission eigentlich erreicht, Božanović aber noch am Leben gewesen war, um sein Treiben ungehindert fortführen zu können, hatte sich Kimball dazu entschlossen, die ewige Verdammnis zu wählen und den Kroaten zu töten … Gerechtigkeit über das Recht zu stellen.
Indem er diesen Mann getötet hatte, jemanden, der hilflose Menschen gequält hatte und nicht aufgehört hätte, die Seelen und den freien Willen anderer zu brechen, hatte Kimball das Gefühl, selbst zu einer Abscheulichkeit in den Augen Gottes geworden zu sein.
Kimball schloss die Augen, seufzte und sehnte sich so unfassbar nach dem Leben, das er einst, als Anführer der Ritter des Vatikan, geführt hatte. Manchmal empfand er Bedauern wegen seiner Tat, manchmal aber auch nicht, denn er glaubte noch immer fest daran, dass ein Mann wie Jadran Božanović vom Angesicht der Erde getilgt werden musste. Aber in diesem Moment empfand er wieder Reue, weil er wusste, dass er noch immer mit seinen Männern im Vatikan zusammen sein könnte, wenn er an jenem Tag nicht zugelassen hätte, sich ausschließlich von seinen Gefühlen leiten zu lassen.
Für einen Moment war er im Selbstmitleid gefangen.
»Sie ist wundervoll«, sagte plötzlich eine Stimme und riss ihn aus seinen Gedanken.
Kimball riss die Augen auf. Schwester Abigail stand in ihrer Nonnentracht direkt neben ihm.
Читать дальше