„Was?“ Ich schaue meinen Bruder böse an. „Spinnst du? Ich hab nichts geklaut! Im Gegenteil! Ich bringe diesen Ring seiner rechtmäßigen Besitzerin zurück! Klar? Der Ring gehört Oma und ich bringe ihn Oma! Was ist daran geklaut? Ich bin Agent und ich kann Schmuck vor Dieben schützen! Und wenn du auch ein Agent sein willst, dann solltest du nicht so laut davon reden, sondern lieber mithelfen, dass der Ring heil bei Oma ankommt! Kapiert?“
„Aber Mama hat gesagt …“
„Es ist mir egal, was Mama gesagt hat!“, platzt es aus mir raus. „Du solltest dich so langsam mal an den Gedanken gewöhnen, dass Mamas nicht immer nur recht haben! Manchmal muss man den Mamas nämlich zeigen, dass viel mehr in einem steckt, als sie denken!“
Lasse reißt die Augen auf. „Es ist dir egal, was Mama sagt?“
„Nein!“ Puh, was hab ich da bloß gesagt? Ich versuche, mich wieder zu beruhigen. „Nein. Das war dumm. Das hab ich nicht so gemeint. Es ist mir nicht egal, was Mama sagt. Hörst du? Ich meinte nur, ich finde, wir sollten Mama beweisen, dass wir gute Agenten sind, auf die sie stolz sein kann. Verstehst du das?“
Lasse nickt. Aber seine Augen sind immer noch weit aufgerissen.
„So“, sage ich mit einem Großer-Bruder-Lächeln und stupse Lasse an, „und jetzt lass uns was spielen, damit wir wieder auf bessere Gedanken kommen.“
Lasse nickt und grinst breit. Wir spielen eine Weile „Ich sehe was, was du nicht siehst“, bis Lasse unseren kleinen Streit wieder vergessen hat. Dann futtern wir die übrigen Gummibärchen aus Lasses aufgerissener Tüte und schließlich liest jeder von uns in seinem eigenen Comic-Heft.
„Wie weit ist es noch?“, fragt mich Lasse irgendwann.
„Ich glaube, nicht mehr so weit. Bald müssten wir in Köln sein.“
„Mir ist langweilig.“
„Wie gesagt: Bald müssen wir umsteigen.“
„Darf ich ein Spiel auf deinem Handy spielen?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Weil es mein Handy ist.“
„Och, bitte. Du spielst doch gar nicht auf deinem Handy, sondern liest nur in deinem langweiligen Comic.“
Ich seufze. „Na schön. Aber bring mir nicht wieder alle Einstellungen durcheinander.“
Lasse strahlt: „Mach ich nicht!“
Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und gebe es meinem Bruder. Er freut sich wie ein Geburtstagskind. Bevor er zu spielen beginnt, betrachtet er stolz die Rückseite des Handys, auf der in voller Pracht meine Handyhülle zu bewundern ist. Ein fettes rotes Herz ist darauf zu sehen. Eigentlich ist mir diese Handyhülle total peinlich. Wenn ich in der Schule mein Handy brauche, halte ich es immer so, dass das Herz nicht zu sehen ist. Lasse hat die Handyhülle von seinem eigenen Taschengeld gekauft und mir zum Geburtstag geschenkt. Ich habe zuerst einen Schrecken bekommen, als ich sie ausgepackt habe. Aber Lasse hat übers ganze Gesicht gestrahlt und sofort erklärt: „Ein dickes Herz, weil du mein Bruder bist und ich dich so dicke lieb habe wie das Herz auf der Hülle dick ist! Das ist cool, was?“ Am liebsten hätte ich so etwas gesagt wie: „Nein, das ist nicht cool, das ist peinlich.“ Aber weil er sich beim Aussuchen so viel Mühe gegeben hat und beim Schenken so gestrahlt hat, habe ich gesagt: „Ja, das ist cool.“ Und dann habe ich ihn in den Arm genommen und war wirklich etwas gerührt über die süße Liebeserklärung meines Bruders. Dann habe ich die Hülle natürlich um mein Handy gezogen und seitdem trägt mein Handy ein fettes Herz auf der Rückseite. Wie gesagt: In der Schule versuche ich es ein bisschen zu verstecken. Aber ich würde es nie fertigbringen, die Hülle abzumachen. Das wäre, als würde ich Lasses Liebesbeweis wegwerfen.
Jetzt sitzt Lasse also im Zug, fährt mit dem Finger liebevoll über das aufgedruckte Herz und freut sich. Dann schaut er mich an und strahlt wie an dem Tag, als er mir die Hülle geschenkt hat. Ich lächle zurück.
„Ich hab dich lieb“, kommt es plötzlich unangekündigt von ihm.
Automatisch schiele ich ein bisschen in der Gegend herum, ob das jemand hier im Zug gehört hat. Dies ist kein Gespräch, das Jungen in meinem Alter führen sollten, finde ich. Da sich aber niemand für uns interessiert, gebe ich leise zurück: „Ich dich auch.“ Dabei lächle ich meinen Bruder herzlich an.
Er lehnt seinen Kopf zurück: „Und ich freu mich, dass wir zusammen das Abenteuer Oma bestehen.“
„Ich mich auch.“
„Und cool, dass wir jetzt schon wieder einen Agentenfall haben.“
Ich runzle die Stirn. „Welchen denn?“
„Na, das weißt du doch! Omas Ring heil und ohne Schaden bei Oma abzuliefern!“
„Ach so, ja.“ Ich muss schmunzeln. So eine große Schwierigkeit dürfte das ja nicht sein. Aber schön, wenn Lasse aus allem ein Spiel oder ein großes Abenteuer machen kann.
Bald darauf sitzt Lasse voller Eifer vor meinem Handy, tippt und jauchzt, lacht und stöhnt. Ich kann mich nicht mehr wirklich auf meinen Comic konzentrieren. Also schiele ich immer mal heimlich zu ihm rüber, um zu überprüfen, wie er sich schlägt. Passenderweise spielt er das Spiel, bei dem er einem gezeichneten Männchen helfen muss, als U-Bahn-Springer auf fahrenden Zügen zu laufen und dabei über Hindernisse und manchmal auch von einer Bahn auf die andere zu springen. Ohne abzustürzen natürlich.
„Oh Mann!“, schimpft Lasse. „Schon wieder abgestürzt!“
Ich lache. „Du musst früher hüpfen!“
„Mach ich doch!“
„Pass auf, ich zeig’s dir.“ Ich nehme das Handy und halte es so, dass Lasse mit draufschauen kann. Dann zeig ich ihm, wie geübt ich schon in diesem Spiel bin. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass unser Zug in einen Bahnhof einrollt. Wieder strömen Menschen den Gang entlang, die aussteigen wollen. „Wir dürfen unsere Haltestelle nicht verpassen“, sage ich und lasse meinen Blick nicht von dem Männchen auf dem Display schweifen. „Was steht auf dem Schild in dem Bahnhof, Lasse?“
Lasse beugt sich vor, um aus dem Fenster schauen zu können. „Si … Sieg … Siegburg“, puzzelt er umständlich die Buchstaben zusammen, „dann ein Schrägstrich und dann … B … Bo … Bonn.“
„Dann müssen wir jetzt aufpassen. Ich glaube, die nächste Haltestelle ist es.“ Ich bleibe über das Handy gebeugt. Mein Männchen läuft und hüpft wie ein Profi. Dann fällt es aber doch runter und das Spiel ist zu Ende. Unsere Bahn rollt an und fährt weiter.
„Super, Ben!“, lobt mich Lasse. „Jetzt ich!“
Lasses Männchen läuft und hüpft, er kommt für sein Alter ganz schön weit. Aber dann – platsch – fällt es runter.
„Zeig du noch mal, Ben.“
Ich spiele, Lasse klatscht begeistert. Die Menschen um uns herum erheben sich von den Plätzen. Mein Männchen hüpft von Zug zu Zug. Ich halte mich. Lasse lacht, er hopst auf seinem Sessel. „Klasse, Ben!“ Unser Zug wird langsamer. Aber das Männchen auf meinem Handy-Display ist gerade dabei, eine neue Rekordzeit vorzulegen. So gut war ich noch nie! „Du schaffst das, Ben!“, lacht Lasse. Aber dann stürzt es doch ab. „Oh, schade!“ Lasse grinst breit. „Aber du bist wirklich gut, Ben! Du spielst das wohl oft, was? Obwohl Mama immer sagt, du sollst nicht so oft mit deinem Handy spielen!“
Ich schaue aus dem Fenster. Der Zug steht. „Köln Hauptbahnhof“, steht auf dem Schild auf dem Bahnsteig.
„Oha“, erschrecke ich mich. „Wir müssen aussteigen!“
Schnell verstaue ich das Handy in meinem Rucksack und überprüfe, ob auch die Blätter mit der Fahrkarte und so weiter eingepackt sind. Ja. Alles da. Lasse steckt sein Comic-Heft in den Rucksack. Jetzt geht er nicht mehr zu. „Beeil dich“, dränge ich ihn hektisch.
„Ich beeile mich ja.“
Ich stehe auf und quetsche mich in den Gang. Schon kommen uns die ersten Leute, die neu in den Zug eingestiegen sind, entgegen. „Hast du deinen Anstecker? Nicht, dass wir ihn noch mal suchen müssen!“
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