Lasse beißt in sein Brot und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen: „Was machst du da, Ben?“
„Die Fahrkarte ist weg!“
„Jetzt verteilst du ja dein ganzes Essen auf dem Boden! Zu mir hast du gesagt, ich soll das nicht machen!“
„Halt die Klappe, Lasse, hilf mir lieber beim Suchen! Unsere Fahrkarte ist verschwunden!“
„Aber eben hattest du sie doch noch.“
„Ja, eben! Aber jetzt ist sie weg!“ Ich wühle wie ein Verrückter in meinem Rucksack. Unterhosen, Strümpfe, mein Ei, meine Tomate – alles verteilt sich auf dem Boden.
Jetzt steht der Kontrolleur vor uns: „So, die Fahrscheine, bitte.“
Ich klappe den oberen Teil des Rucksacks wieder zu. Da ist noch ein Reißverschluss. Ich reiße ihn auf – heraus kommen die weißen Blätter. Gott sei Dank! Ich ziehe sie mit letzter Kraft aus dem Fach und halte sie dem Kontrolleur hin.
„Immer ruhig bleiben, junger Mann“, brummt er gemütlich, blättert meine Zettel durch, hält sie vor seinen Apparat und gibt sie mir zurück. „In Köln Hauptbahnhof umsteigen.“
„Ja, weiß ich“, japse ich.
„Gleis 12 ist der Anschlusszug.“
„Danke.“
Der Kontrolleur geht weiter und hat keine Ahnung, welchen Schock ich in den letzten Minuten hatte. Lasse grinst mich genüsslich an: „Du bist lustig, Ben!“
„Da gibt es überhaupt nichts zu grinsen!“, schimpfe ich laut. „Wenn wir die Fahrkarten verlieren, dann dürfen wir nicht mehr Zug fahren, verstehst du? Wenn wir ohne Fahrkarte Zug fahren, dann sind wir Schwarzfahrer! Dann müssen wir eine riesige Strafe zahlen!“
„Aber wir haben die Fahrkarte doch überhaupt nicht verloren.“
„Nein. Aber um ein Haar.“ Ich schaue mir das Chaos rund um meinen Rucksack an. „So. Und jetzt wieder alles einräumen.“
„Ich helfe dir.“ Lasse steckt den Rest seines Brotes auf einmal in den Mund und grabscht mit seinen Wurstbrot-Fettfingern alles an, was auf dem Boden liegt. Geldbeutel, Notizblock – alles ist jetzt voller Lasse-Fettflecken. Egal. Ich stopfe meine Wäsche wieder in den Rucksack, lege mich unter dem Sitz auf den Bauch und komme gerade so eben an meine Trinkflasche, bevor sie noch weiter nach hinten rollt.
„Wmpf mpf wmpf mmpf?“, versucht Lasse mir irgendwas mitzuteilen, während er mit dem viel zu großen Brotbrocken in seinem Mund kämpft.
„Was ist los?“ Mit Geächze gelingt es mir, mich mitsamt meiner Trinkflasche wieder vor den Rucksack zu knien und sie einzuräumen. Da sehe ich Lasse auf dem Boden knien mit einem kleinen, braunen Kästchen in der Hand.
„Waff ifft daff demm?“, spuckt er mich von neuem an. Ich reiße ihm das Kästchen aus der Hand. „Her damit!“ Ich stecke es in das große Fach zu den Socken tief unten in den Rucksack. „Kau erst mal zu Ende, bevor du hier rumspuckst!“
Lasse hält seinen Kopf in den Nacken, als könnte er damit das Spucken verringern: „Daf fieht fo auf wie daf Käftfen mmt dm Ring von Oma!“
„Das ist auch der Ring von Oma. Aber jetzt halt die Klappe und iss dein Brot zu Ende!“ Ich schaue noch mal unter die Sitze. Zwei Reihen vor mir liegen mein Ei und meine Tomate.
„Mama hat fefagt, du follft daf nift mmtnnhmmn!“
„Ich versteh kein Wort.“ Ich steige über Lasse in den Gang und gehe zu der Frau, unter deren Sitz meine Sachen liegen. „Entschuldigung, ähm …“
Die Frau schaut von ihrem Buch hoch: „Ja, bitte?“
„Da liegt … ähm … mein Ei …“
Die Frau holt tief Luft: „Wie bitte?“
„Unter Ihrem Sitz … ähm … darf ich kurz?“ Ich hocke mich auf den Boden, strecke meinen Arm zwischen ihren Beinen hindurch und erreiche das Ei und die Tomate. Die Frau schreit erschrocken auf.
Von hinten blökt Lasse: „Mama hat gesagt, du darfst das nicht!“
Die Frau hebt entsetzt ihre Füße nach oben und japst nach Luft. „Da hat deine Mama ganz recht! Das darfst du nicht!“
Ich richte mich wieder auf und zeige der Frau, was ich geholt habe. „Das war mir aus dem Rucksack gekullert. Entschuldigung.“
„Also, so was!“
Schnell gehe ich zu meinem Platz zurück, steige wieder über Lasse und lasse mich in den Sitz plumpsen. Ich bin so erschöpft, dass ich als Erstes in die Tomate beiße. Es spritzt. Der nächste Tomatenfleck auf meiner Jacke. Na toll. Da wird Oma Augen machen, wenn wir bei ihr ankommen. Der große Ben als Tomatenketchup verkleidet.
„Die kann man nicht mehr essen“, belehrt mich Lasse altklug. „Da hat ein Hund drauf gepinkelt!“
„Du bist ein Dummschwätzer, Lasse.“
„Hast du eben selbst gesagt!“ „Na und? Und du hast deine Gummibärchen auch munter weitergegessen.“
„Außerdem“, Lasse hebt seinen Zeigefinger, der immer noch vor Wurstfett glänzt, „hat Mama gesagt, du sollst den Ring von Oma nicht mitnehmen!“
„Das weiß ich. Und ich mach es trotzdem.“ Ich beiße noch mal in die Tomate, der Tomatensaft läuft mir über das Kinn und tropft auf meine Hose. Auch das noch. Schnell stopfe ich den Rest Tomate in den Mund, wische mir mit dem Ärmel über das Kinn und schaue aus dem Fenster. „Das darfst du nicht, wenn Mama es verboten hat“, quakt Lasse noch hinterher.
„Na und?“
Ich habe keine Lust, mich ausgerechnet von meinem naseweisen Bruder belehren zu lassen, was ich darf und was nicht. Natürlich kann ich mich noch an die Diskussion mit Mama erinnern. Vor ein paar Tagen habe ich gehört, wie sich Mama und Papa über den Ring unterhalten haben. Mama hatte ihn sich vor einiger Zeit bei Oma ausgeliehen. Sie hatte ihn bei einer Hochzeit oder irgendeiner anderen Feier getragen. Danach wollte sie ihn wieder zurückbringen, aber weil Oma so weit weg wohnt, kommen wir so selten zu ihr. Da hat Papa zu Mama gesagt, wenn Lasse und ich jetzt sowieso nach Hasewinkel zu Oma fahren, dann könnte ich ihr den Ring doch mitbringen. „Das kommt überhaupt nicht infrage“, hat Mama gesagt, „der Ring ist mehrere Hundert Euro wert. Wenn der verloren geht, dann gibt das riesigen Ärger!“ „Wieso soll der denn verloren gehen“, hat Papa gefragt, „wenn Ben ihn doch in seinen Rucksack steckt?“ Da habe ich mich in das Gespräch eingemischt und gesagt, ich bin doch ein Agent und ich will Polizist werden, natürlich kann ich auf einen Ring aufpassen und ihn ohne Schaden von hier nach dort bringen. Aber Mama ist dabei geblieben: „Ich bin schon froh, wenn die Kinder heil bei Oma ankommen. Da müssen wir ihnen nicht auch noch solche Wertgegenstände mitgeben. Stell dir mal vor, die Kinder werden überfallen oder sie bekommen ihre Sachen geklaut!“ Dann haben Mama und Papa darüber gestritten, wie viel oder wenig sie uns zutrauen und wie hoch wohl die Wahrscheinlichkeit ist, dass wir überfallen oder bestohlen werden und so weiter. Jedenfalls ist mir die Sache danach nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Es hat mich schon ein bisschen gekränkt, dass Mama mir nicht zutraut, dass ich einen Ring zu Oma bringen kann. Es ist Omas Ring. Und ich bin ein guter Agent. Ich kann beschatten, ich kann beobachten, ich kann beschützen. Also ist es doch nur logisch, dass es mir gelingt, Omas Ring zurückzubringen. Darum habe ich gestern, als wir unsere Sachen gepackt haben, heimlich den Ring samt Kästchen aus Mamas Schlafzimmer genommen. Ich habe mir gedacht: Ich werde Mama beweisen, dass ich nicht mehr der kleine, dumme Junge bin, für den sie mich hält. Ich bin schon groß. Ich bin fast erwachsen. Ich gehe nicht mehr in die Grundschule. Und wenn ich schließlich den Ring wohlbehütet zu Oma gebracht habe und sie sieht, dass ich es geschafft habe, dann wird sie ihre Meinung vielleicht ändern und stolz auf ihren Agenten-Sohn sein. Aber dass mein Bruder Lasse diesen Ring findet und mir oberlehrerhafte Vorträge dazu hält, das habe ich natürlich nicht mit eingeplant.
„Dann hast du den Ring ja geklaut!“, reißt Lasse mich aus meinen Gedanken.
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