Kathrine Nedrejord
Aus dem Norwegischen von Holger Wolandt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Epilog
Die Autorin
Es beginnt mit einem Augenblick, von dem du später verstehst, dass er alles verändern wird.
Du raffst es natürlich noch nicht, denn du lebst dein Leben ohne Hintergrundmusik. Nichts deutet darauf hin, dass es jetzt spannend wird. Du holst wie immer dein Fahrrad aus der Garage und rufst deiner Mutter, die auf der Veranda Blumen umtopft, zu, dass du zum Kiosk fährst. Du wartest ihre Antwort nicht ab, schwingst dich aufs Fahrrad und radelst los. Du denkst, es ist ein ganz normaler Sonntag im September. Allerdings merkst du, dass es ein wenig wärmer ist als sonst, aber das Wetter ist schon seit Jahren recht unstabil. Das ist also nichts Neues. Nichts deutet darauf hin, dass sich etwas Ungewöhnliches anbahnt.
Du radelst wie schon Tausende Male zuvor den Tanaelva entlang. Nirgends ein Auto in Sicht. Nach einem Kilometer geht es über die Brücke. Du holst tief Luft und schaust nicht runter, denn beim Blick aufs Wasser wurde dir immer schon schlecht. Du beschleunigst und bremst erst ab, als du dich sicher auf der anderen Seite und vor dem Kiosk befindest. Du schließt dein Fahrrad ab, weil deine Mutter dir das ausnahmslos jedes Mal einschärft und du zu denen gehörst, die ihren Müttern gehorchen. Dann betrittst du den Kiosk. Und weil du nicht weißt, dass bald etwas Ungewöhnliches geschehen wird, begibst du dich, ohne aufzublicken, direkt zu den wenigen Büchern, wegen denen du gekommen bist. Du schaust dir die Cover an und ahnst nicht, dass gleich etwas passiert, etwas, das dein Leben erfasst und so durcheinanderwirbelt, dass anschließend nichts mehr so ist wie vorher.
Nicht mal, als eine fremde Stimme sagt –
»Gibt es das, was du suchst?«
– geht dir auf, was eigentlich los ist.
Dir treten allerdings Schweißtropfen auf die Stirn, weil du nicht so gerne mit Leuten redest, die du nicht kennst. Widerwillig schaust du hoch. Du zuckst zusammen, weil du nicht den Typen vor dir siehst, der im Kiosk arbeitet, sondern ein fremdes Gesicht. Du weichst einen Schritt zurück und verschränkst die Arme.
Der alles verändern und dein Leben auf den Kopf stellen wird – ist dieser Mensch.
Tana ist kein großer Ort. Du – oder eigentlich ich, denn eigentlich geht es um mich – also ich kenne einen großen Teil der Leute beim Namen und den Rest vom Sehen. Im Sommer trifft man allerdings auch einige Touristen, aber die sind leicht zu erkennen. Er wirkt nicht wie ein Tourist. Er ist groß, hat halblanges Haar und seine Jeans ist enger als das, was du, also ich, sonst sehe. Seine Augen sind so hellblau, dass sie fast durchsichtig wirken. Sein hübsches Gesicht ist sonnengebräunt. Amanda sagt, dass hübsch kein richtiges Wort für Jungs ist. Mädchen sind hübsch, Jungs sind cool . Aber er hat hohe Wangenknochen, eine schmale Nase und große Lippen, er ist also fast auf eine Mädchenart hübsch, also halte ich mich an diese Wortwahl und verteidige sie in meinem Kopf. In Wirklichkeit sage ich aber nichts und starre ihn einfach nur an und schlucke.
»Nicht?«, sagt er.
Er lächelt und gerät damit in die Cool-Kategorie, denn das Lächeln ist nicht mehr mädchenartig. Dafür ist es viel zu selbstsicher und breit.
»Was?«, krächze ich und räuspere mich dann.
»Ich meine … findest du, was du suchst?«
Ich begreife nicht, warum er mit mir spricht.
»Weiß nicht«, antworte ich knapp und schaue wieder auf die Bücher. Er muss mich für eine andere gehalten haben, es gibt keinen Grund, warum er mit mir reden sollte. So etwas passiert sonst nur Amanda. Sie hat erzählt, dass sie in den Ferien oft irgendwelche Typen fragen, ob sie sie im Snapchat adden dürfen. Amanda bringt so was nicht in Verlegenheit, sie legt den Kopf zur Seite und antwortet etwas Charmantes. Sie ist ironisch, lustig und schlagfertig , wie unser Lehrer Ulf zu sagen pflegt. Aber ich habe kein langes, glattes und glänzend blondes Haar wie Amanda, keine langen Wimpern und auch keine hellblauen Augen. Ich habe Wuschellocken, und meine Augen sind so braun, dass sie fast schwarz wirken.
»Ich hab dich schon mal gesehen«, sagt er jetzt.
Ich merke, dass mein Kopf kocht. Ich muss ganz rot sein. Da begreife ich, dass etwas Außergewöhnliches im Gang sein muss. Im Übrigen ist das falsch. Zu diesem Zeitpunkt bin ich so gestresst und nervös, dass ich mich nicht mehr auf die Titel der Bücher konzentrieren kann. Stattdessen frage ich mich, wie ich wegkomme, ehe ihm auffällt, dass ich rot werde.
Amanda hat recht. Du kannst nicht mit Jungs reden, du wirst dann komisch .
»Und wo?«
Ich spreche so leise, dass es an ein Wunder grenzt, dass er mich hört. Ich wünschte, es wäre Winter und nicht Herbst, dann würde ich einen langen Schal um den Hals tragen, in dem ich mich verstecken könnte.
»Im Supermarkt, glaube ich«, sagt er. »Und irgendwann im Sommer in der Buchhandlung.«
»Ach so«, antworte ich und bin mir sicher, ihn noch nie gesehen zu haben. Aber das kann stimmen. Mama beklagt sich immer, dass ich beim Einkaufen so abwesend wirke. Ich bleibe bei den Illustrierten oder den Büchern stehen, schaue mir die Cover an und blättere in einem Heft nach dem anderen. Dann nehme ich nichts um mich herum wahr. Ich lese gerne. Fast zu gerne. Mama wäre es recht, wenn ich das mit normaleren Interessen wie Sport oder Musik ausgleichen würde. Das habe ich auch versucht, aber nichts reicht ans Lesen auch nur annähernd heran. Nicht zuletzt sind Bücher und Illustrierte für mich Orte der Geborgenheit. Denn dort überfallen dich keine Unbekannten und zwingen dich dazu, mit ihnen zu reden.
»Schon damals habe ich mich gefragt, wie diese Beauty heißt, die immer in die Bücher schaut«, fährt der Typ fort. Mit Müh und Not schaffe ich es, ihn anzusehen. Die Bücher anzuschauen, hat keinen Sinn, weil die Cover einfach vor meinen Augen verschwimmen.
Aus meinem Mund dringt ein seltsames Geräusch. Eine Mischung aus einem Schluchzer und einem Seufzer, glaube ich, schwer zu sagen. Kann sein, dass ich ganz für mich ein ganz neues Geräusch erfunden habe.
»Ach was«, sage ich, weil ich nicht weiß, was ich sonst antworten soll. Er macht sich über mich lustig. Diese Beauty . Niemand hat mich bislang als schön bezeichnet. Lars-Kristian aus der Klasse hat mich mal in der Fünften hübsch genannt, aber inzwischen bin ich größer als die Hälfte der Jungs, und meine Augen sind noch dunkler als damals. Außerdem sind alle kleinen Kinder hübsch. Amanda ist die Beauty . Amanda weiß, wie man sich schminkt und frisiert. Amanda lächelt auf die richtige Art und lacht so, dass es ansteckt. Ich denke, dass er seine Ansicht geändert hätte, hätte Amanda neben mir gestanden.
»Und wie heißt du?«
Er lächelt noch immer.
Ich hole tief Luft.
»Anna«, antworte ich.
»Schöner Name«, erwidert er. »Ich heiße Samuel.«
Er streckt die Hand aus. Wie alt ist er? In jedem Fall älter als ich. Niemand aus meiner Klasse gibt Gleichaltrigen die Hand. Das habe ich noch nie erlebt. Ich bin fünfzehn, und es erscheint mir seltsam, mich im Kiosk mit jemandem unterhalten zu sollen, der mir die Hand geben will. Ich frage mich, wer er ist, und plötzlich bin ich nicht mehr nervös, sondern neugierig.
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