»So ein Idiot«, sagt sie vorsichtig. Sie sieht mich mitleidig an.
»Was – wie meinst du das?«, frage ich.
»Also«, antwortet sie. »Er hört sich wie eines dieser Arschlöcher an. Hast du nicht von diesen Jungs auf der Weiterführenden gehört, die gewettet haben, dass sie sich trauen, sich mit dem unbeliebtesten Mädchen zu verabreden? Im Frühjahr haben sie Snaps gepostet. Ich bin mir sicher, dass ich dir davon erzählt habe … Mit einer Menge Kommentare und so …«
Amanda hält inne und verzieht leicht angewidert das Gesicht. Sie legt ihre Hand auf meine.
»Es ist nicht, weil ich glaube, dass sich niemand für dich interessiert, Anna«, sagt sie und streicht mir übers Haar, wie sie das tut, seit wir im Kindergarten beste Freundinnen wurden. Sie schaut mich an. Ihre Augen leuchten. »Das meine ich überhaupt nicht, aber interessieren sich Jungs von der Weiterführenden für Mädchen aus der Mittelstufe? Außerdem, seit dieser Sache im Frühling dachte ich – es wäre krass, wenn sie Bilder von dir ins Netz stellen, weil du dann zu denen gehörst, die sie verarschen.« Amanda kriegt immer viel besser mit, was los ist, als ich. Ich bin immer die Letzte in der Klasse, die ein Gerücht mitbekommt, und dann auch nur, weil Amanda mir davon erzählt, weil sie findet, dass ich irgendwas wissen muss. Ich bin froh, dass Amanda das alles weiß. Und obwohl die Cancan-Tänzerinnen von gestern in meiner Magengrube zu Stein werden, als sie das sagt, und ich so plötzlich ein unmögliches Gewicht mit mir herumtrage, denke ich, dass es besser ist, Bescheid zu wissen. Besser, als sich lächerlich zu machen.
»Ich hatte ohnehin nicht vor, zu antworten«, sage ich. »Falls er sich noch mal gemeldet hätte, meine ich. Ich dachte sowieso, dass da was nicht stimmt. Das wirkte so unnatürlich.«
Mein Mund ist ganz trocken, aber ich muss diese Worte trotzdem schnell sagen. Dann nimmt Ole Anlauf, zielt aber daneben und trifft mich mit dem Radiergummi so hart, dass es wehtut.
»Au«, stöhne ich.
Amanda springt auf.
»Könnt ihr mal vernünftig werden? Ihr verdammten Idioten!«, ruft sie.
Ole und Tobias erstarren.
»Seht ihr nicht, dass ihr Anna wehgetan habt?«, sagt sie etwas milder. Mit ihrer Hand streift sie meine Schulter. Ole und Tobias sehen Amanda verängstigt an. Manchmal glaube ich, dass ihre Stimme mehr Autorität besitzt als die von Lehrer Ulf. Alle in der Klasse, selbst die Kindischsten, respektieren Amanda, besonders dann, wenn sie laut wird. Nicht ohne Grund wird sie seit der Siebten jedes Jahr einstimmig zur Vertreterin in der Schülermitverwaltung gewählt.
»Tschuldigung«, sagt Ole.
»Macht nichts«, murmele ich, hole tief Luft und fahre dann vorsichtig fort: »Vielleicht können wir ja jetzt was über Moleküle aufschreiben?«
Ole und Tobias geben zu, dass sie die Hausaufgabe nicht gemacht haben, und Amanda sagt, dass sie die Hausaufgabe zwar gemacht, aber sich nichts gemerkt hat. Also schreibe ich drei Punkte auf und greife dann zum Buch und finde ein paar weitere, während ich bereits ein Foto von mir auf irgendeiner Homepage oder in einem Forum vor mir sehe, das Samuel gemacht hat, vielleicht ein Selfie von uns beiden mit meinem Namen: Anna aus der Zehnten, die sich einbildet, ich interessiere mich für sie! Darunter eine Menge Kommentare, grinsende Emojis, Gelächter, LOL und anderes. Ich bin froh, dass ich das mit »Beauty« nicht erwähnt habe, sonst hätte Amanda noch geglaubt, dass ich total übergeschnappt bin.
»Hast du eine Wasserflasche?«, frage ich Amanda.
»Im Klassenzimmer«, antwortet sie. »Wieso?«
»Ich habe einen trockenen Mund«, antworte ich leise.
Eine, die letztes Jahr in der Zehnten war, Mia, die sich nie schminkte, hatte einem Typen aus der Weiterführenden in Tana Bro ein Foto mit riesigem Ausschnitt und Schmollmund geschickt und er hatte es folgendermaßen kommentiert: Mia glaubt wohl, sie ist heiß , und es dann gepostet. Und zwar überall. Der Rektor war sauer, die Lehrer waren außer sich, alle redeten über Netiquette und über das Teilen und darüber, was für eine Sauerei das ist, und trotzdem hatten wir alle anschließend dieses bescheuerte Foto von Mia vor Augen, wenn wir ihr begegnet sind.
Amanda hat immer gesagt, dass man niemandem etwas schicken darf, auf den man sich nicht hundertprozentig verlassen kann. Sie sagt, die Einzige, auf die sie sich hundertprozentig verlässt, bin ich. Bei mir ist es genauso. Aber bei mir gibt es sonst ohnehin niemand zur Auswahl. Amanda hätte auf jede in der Klasse deuten und sagen können: »Du bist meine neue beste Freundin.« Und die Auserwählte wäre, ohne zu protestieren, einverstanden gewesen, hätte alles stehen und liegen lassen und wäre ihr gefolgt. Außerdem hätte sich die Auserwählte gefreut und wäre stolz gewesen. Aber Amanda hat mich gewählt, und ich weiß nicht, was ich ohne sie machen würde.
Ich hatte Mühe, Freundschaften zu schließen, bis plötzlich Amanda auftauchte, hat Mama mir erzählt. Im Kindergarten spielte ich meist allein. Eines Tages zog Amanda mit ihren Eltern in das Haus gegenüber, und das Problem war gelöst. Bereits an ihrem ersten Tag im Kindergarten blieb Amanda hinter mir im Sandkasten, in dem ich alleine mit einer Schaufel und dem grünen Eimer saß, stehen und tippte mir auf die Schulter. Ich drehte mich um und sah sie an. »Wir beide werden beste Freundinnen«, sagte sie. Glaube ich jedenfalls. Ich erinnere mich nicht mehr genau, aber Amanda sagt, dass es so gewesen ist.
Ich finde, dass das ein wenig zu sehr wirkt wie im Film, um wahr zu sein, aber ich erinnere mich ohnehin nicht an sonderlich viel aus dieser Zeit. Außerdem hat es keinen Sinn, Amanda zu widersprechen. Sie argumentiert gut und gewinnt in der Regel bei unseren Diskussionen. »Behauptest du etwa, dass ich lüge?« – »Nein, natürlich nicht.« – »Aber wenn du sagst, dass das nicht wahr ist, dann sagst du doch, dass ich lüge, Anna!« – »Nein, so habe ich das nicht gemeint.« – »Ja, denn es wäre wirklich gemein von meiner besten Freundin, der Einzigen auf der Welt, auf die ich mich voll und ganz verlasse, wenn sie glauben würde, dass ich eine Lügnerin bin.« – »Tue ich nicht, Amanda!« So hört sich das meistens an, wenn ich ein seltenes Mal widerspreche.
»Wo willst du hin?«
Ohne zu überlegen bin ich plötzlich aufgestanden.
»Nichts weiter«, antworte ich. »Ich bin nur so – ich muss einfach was trinken, ich habe einen wahnsinnig trockenen Mund.«
Ich verlasse den Gruppenraum und gehe rasch den Gang entlang zu den Toiletten.
Glücklicherweise ist dort niemand.
Ich stelle mich vor den Spiegel und drehe den Hahn auf. Dann spritze ich mir ein wenig Wasser ins Gesicht. Ich weiß nicht, warum, es kommt mir einfach in den Sinn. Vielleicht, weil sich meine Stirn verschwitzt und feucht anfühlte. Mein Gesicht ist zu rund und jetzt noch dazu gerötet. »Du wirst viel roter im Gesicht als ich, wenn du erst mal rot wirst«, hat Amanda mal gesagt. Sie meint, dass das an meinem Vater liegt. Obwohl keine von uns je ein Foto von ihm gesehen hat. Ich weiß nur, dass Mama ihn in der Türkei in den Ferien kennengelernt hat. Da niemand aus der Familie außer mir Wuschelhaare hat, ist das und das heftige Erröten vermutlich Teil seines Erbmaterials.
»Eigentlich siehst du mit diesen Haaren nur noch mehr aus, wie sich die Leute die Samen vorstellen«, meint Amanda, »oder die Eskimos oder so. Aber eben ohne diese Locken. – Ich finde dich hübsch, megahübsch.« Das sagt sie häufig. »Aber die Leute in Norwegen sind so bescheuert. Denen sind Blondinen mit glatten Haaren und so lieber. Du siehst das doch auch. Die Jungs kleben an mir, als wäre ich magnetisch oder so.« Dann lächelt sie. »Aber wenn sie vernünftiger werden, dann entdecken sie, wie schön du bist.«
Ich denke an Samuel. Ist er vernünftiger?
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