»Wohnst du hier?«
Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich zu einem Jungen, der nicht in meine Klasse geht, einen ganzen Satz sage. Nicht lang, aber trotzdem mein persönlicher Rekord. Amanda wird mir das nicht glauben, wenn ich ihr davon erzähle.
»Ich bin jetzt im Sommer hierhergezogen«, sagt er. »Mit meiner Mutter.«
»Ach«, erwidere ich und greife dann verzweifelt nach einem Buch. Einem mit schwarzem Cover und Flammen drauf. Ich habe es schon gelesen, aber egal. Ich halte es in die Höhe, als würde das als Erklärung genügen, und renne dann regelrecht von ihm weg zur Kasse. Er folgt mir nicht, aber ich spüre seinen Blick im Nacken.
Der Verkäufer sucht lange nach dem Preis. Er kratzt sich hinterm Ohr.
»Tja«, sagt er, hebt das Buch in die Höhe und dreht es hin und her. Ich spüre, dass der Blick vom Bücherständer her auf mir ruht. Mein Kopf kocht, und ich will eigentlich sagen, dass dieses verdammte Buch nicht so wichtig ist, aber der Verkäufer ruft jemanden aus dem Lager, ehe ich noch etwas sagen kann.
»Du, welche Warengruppe ist das?«
Ich atme tief durch. Eigentlich will ich kein Geld für ein Buch verschwenden, das ich schon gelesen habe, nur um einen Typen loszuwerden, und jetzt zieht sich der Vorgang auch noch in die Länge und hilft mir nicht aus dem flammenden Inferno, in dem ich gefangen bin.
»Folgendermaßen«, sagt die Verkäuferin und tippt ihrem Kollegen auf die Schulter. »Wenn der Strichcode nicht funktioniert, gibt es ihn vielleicht nicht im System …«
»Schon gut«, murmele ich und glaube zu sehen, dass sich Samuel in unsere Richtung bewegt.
»Bitte?«, sagt die Verkäuferin.
»Schon gut«, sage ich.
»Aber das klären wir!«, sagt sie mit einem gezwungenen Lächeln, aber jetzt höre ich Schritte und schüttele den Kopf, drehe mich um und halte auf die Tür und mein Fahrrad zu. Ich gehe mit raschen Schritten, und meine Hand liegt schon fast auf der Klinke, als ich erneut seine Stimme höre:
»Anna!«
So tun, als sei ich nicht gemeint, kann ich nicht. Ich muss reagieren. Ich seufze.
»Ja?«, sage ich heiser und drehe mich halb zu ihm um, sehe ihn aber nicht an.
Mit wenigen Schritten steht er neben mir. Das muss er geübt haben, denke ich.
»Es wäre nett, sich mal wieder zu treffen«, meint er. »Findest du nicht auch? Ich gehe im ersten Jahr in die Weiterführende, und da habe ich dich nie gesehen, du bist also noch in der Mittelstufe?«
»Ja. In Seida«, sage ich mit schwacher Stimme.
»Auf der anderen Seite der Brücke?«, will er wissen.
Ich nicke und habe nicht die Kraft, hochzuschauen. Ich will nur, dass diese Unterhaltung schnellstmöglich ein Ende nimmt.
»Vielleicht gibst du mir ja deine Handynummer?«, fragt er.
Ich beiße mir so fest auf die Zunge, dass es fast wehtut.
»Bitte?«, sage ich leise.
»Du hast doch ein Handy?« Er lächelt.
»Klar«, murmele ich, greife in meine Jackentasche und ziehe es heraus, als hätte er den Beweis verlangt. Es ist nicht neu, und der obere Teil des Displays ist gesplittert.
Samuel schnappt sich mein Handy.
»Wir machen das so«, sagt er. »Ich rufe mein Handy an, dann bin ich mir sicher, dass ich die richtige Nummer habe.«
Ich antworte nicht. Ich sehe zu, wie seine Finger über das Display tanzen. Er hält mein Handy eine Sekunde lang ans Ohr, dann spürt er offenbar, dass es in seiner Tasche vibriert. Er grinst und nickt.
»Gebongt«, sagt er. »Nett, dich kennengelernt zu haben, Anna.«
Dann tritt er als Erster durch die Tür. Verschwindet nach draußen. Nicht zu einem Fahrrad, sondern zu einem Moped. Ich schaue durch das Fenster in der Tür.
»He!«, ruft der Verkäufer hinter mir.
Ich will ihn eigentlich nicht aus den Augen lassen, sehe mich aber dazu gezwungen und drehe mich um.
»Jetzt funktioniert es!«, sagt der Verkäufer und winkt mit dem Buch mit dem Flammen-Cover.
Ich schüttele den Kopf.
»Mir fiel eben ein, dass ich das schon gelesen habe«, sage ich und spüre, dass meine Hand, mit der ich das Handy halte, zittert. Rasch schaue ich auf das Display und auf die Nummer, die dort aufgetaucht ist. Das kann nicht wahr sein. Ist das wirklich passiert? Es tanzt in meinem Bauch, keine Ballett-Truppe mit graziösen Bewegungen, sondern eine Truppe Cancan-Tänzerinnen mit spitzen Schuhen tritt mich von innen. Ich frage mich, ob ich noch einmal zurückgehen und die Bücher anschauen soll, aber zum ersten Mal interessieren sie mich nicht. Als ich die Tür öffne und ins Freie trete, sehe ich das Moped wegfahren. Er verschwindet in der entgegengesetzten Richtung zum Neubauviertel auf dieser Seite des Flusses. Ich wusste es, deswegen hatte ich ihn noch nie gesehen.
Es gefällt mir nicht, dass meine Hände so zittern.
Als ob mein Körper mehr verstanden hätte als ich.
Dass etwas passiert ist.
Dass von jetzt an alles anders wird.
»Dass deine Mutter immer so streng sein muss«, sagt Amanda.
»Die Party war super. Langsam muss sie doch mal begreifen, dass du nicht jedes Wochenende zu Hause sitzen kannst.«
»Ich sitze nicht zu Hause«, sage ich und kaue weiter auf meinem Bleistift.
Amanda zieht eine Braue hoch.
»Ach nee?«, meint sie. »Nächstes Mal gehe ich mit und versuche sie zu überreden. Ich kann das sowieso besser als du.«
»Na gut«, sage ich, schaue auf mein Blatt und hoffe, dass Amanda nicht geschnallt hat, dass ich Mama nicht mal gefragt habe. Kann schon sein, dass sie es mir nicht erlaubt hätte, aber das kann ich nicht wissen. Ich weiß nur, dass Party nach verlängerter großer Pause klingt, in der sich alle um Amanda scharen, während ich mir den Anschein gebe, als wäre ich nicht unbeliebt.
Wir sitzen in einem der Gruppenräume, Amanda, ich, Ole und Tobias, die beiden Jungs in der Klasse, die am kindischsten sind. Wir sollen ein Referat über Moleküle vorbereiten, und das heißt: Ole schießt mit dem Lineal einen Radiergummi auf Tobias, Tobias motzt, und Amanda scrollt auf dem Handy durch die Fotos vom Samstag.
»Schau mal! Ist der nicht süß?«, fragt sie. »Er hat gesagt, ich würde ihn an ein Model erinnern, das er kennt. Ich: Das ist nicht dein Ernst? Er: Ihr habt denselben Stil … Sie wohnt irgendwo im Süden und hat mehrere Tausend Follower und so. Ich habe sie mir angeschaut. Sie ist megaschön – aber ich weiß nicht, ob ich wirklich aussehe wie sie – vielleicht im Profil?«
Amanda hält mir das Display hin und macht die Pose des Mädchens nach. Ich nicke halbherzig. »Vielleicht.«
Ich habe ein paar Punkte auf das Blatt geschrieben. Oben steht: Moleküle. Ich habe es drei Mal übereinander geschrieben, und die Buchstaben sind überbreit und deutlich.
»Aber eigentlich denke ich, dass ich mehr aussehe wie die. Was glaubst du?«, fragt sie. Sie hält das Foto einer Blondine in die Höhe, deren riesige Lippen falsch sein müssen. Ich lächele vorsichtig.
»Weiß nicht«, sage ich.
»Ein wenig ähnlich sind wir uns doch«, sagt Amanda. »Und schau! Dreitausendsiebenhundert Follower.«
Ich übermale das Wort Moleküle ein weiteres Mal. Sehr viel deutlicher kann es nicht werden.
»Ganz schön viele«, sage ich.
Jetzt greift Tobias zu seinem Lineal und schießt einen Radiergummi auf Ole. Amanda wirft ihnen einen genervten Blick zu und stöhnt.
»Müsst ihr immer so verdammt kindisch sein?«, fragt sie, wendet sich wieder an mich und sagt: »Was hast du da eigentlich für eine Nachricht geschrieben? Irgendwas mit Kiosk?«
Ich beiße wieder auf den Bleistift, hole dann tief Luft und lege los.
»Es kam da so ein Typ auf mich zu«, sage ich, und dann erzähle ich mit leiser Stimme, obwohl die Jungs viel zu beschäftigt damit sind, Treffer zu landen, um zuzuhören, was Samuel gesagt hat. Das mit Beauty lasse ich allerdings aus, denn ich spüre, dass ich das nicht sagen kann, ohne dass meine Hände wieder zittern. Mit gerunzelter Stirn hört Amanda zu und zieht dann die Brauen hoch.
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