Und an mein Gesicht, das eigentlich nur fürchterlich normal ist. Keine großen, funkelnden blauen Augen wie Amanda. Alles normal groß. Nase, Wangen, Mund. Anonym. Standard also.
Wären die Locken nicht, könnte ich mit der Wand verschmelzen oder würde zumindest in der Menge auf dem Schulhof verschwinden.
Dann hätte sich niemand an mich erinnert. Manchmal träume ich das, dass ich aussehe wie Mama und im Lebensmittelladen, im Bus, überall, nicht auffalle. Aber meine Haare verderben alles. »Meinst du diese Dunkelhaarige mit den Locken?« Meine Haare gehören fast noch mehr zu mir als mein Name. Sie waren sicher auch der Grund dafür, warum Samuel sich an mich erinnert hat. Ich meine, ihn das zu den anderen in der ersten Oberstufenklasse sagen zu hören. »Ihr wisst schon, die mit den Locken? Die Dunkelhaarige? Ich habe ihr weisgemacht, dass sie mich interessiert.« Das herzlose Lachen. Ich schlucke. Amanda hat recht. Ich bin wirklich zu leichtgläubig.
Es vibriert in meiner Hosentasche.
Ich schaue auf mein Handy. Es sind die Nummer und der Name, die ich gestern gespeichert habe.
Eine neue Nachricht von Samuel.
Ich war den Hang von der Schule langsam nach unten und nach Hause gegangen. Amanda hatte ich nichts von der Nachricht gesagt. Sie war wegen eines Treffens des Abschlussballkomitees noch in der Schule geblieben. Überall mischt sie mit, und sie kennt alle. Aber daran dachte ich auf dem Heimweg nicht, sondern nur an die Nachricht auf meinem Handy. Ich ging besonders langsam, weil ich die Vorfreude in die Länge ziehen wollte. Obwohl Amanda mit dem, was sie über diese Wetten gesagt hatte, garantiert recht hatte, hegte ich trotzdem die winzige Hoffnung, dass es nicht die Wahrheit und dass Samuel aufrichtig war.
Ich sollte es besser wissen. Ich hatte schließlich genug Bücher und Geschichten aus der Wirklichkeit gelesen, um zu wissen, dass die meisten Leute sich selbst betrügen. Jungs, die nett sind, haben oft Hintergedanken. Und Mädchen lassen sich immer wieder betrügen.
Und obwohl mir das alles durch den Kopf geht, lösche ich die Nachricht nicht.
Ich mache es mir mit einem Knäckebrot und einem Glas Orangensaft auf dem Sofa bequem, ziehe mein Handy aus der Tasche und lege es vor mich auf den Tisch. Ich zucke zusammen, als ich sehe, dass da jetzt zwei ungelesene Nachrichten sind. Ich entsperre das Handy und sehe, dass die zweite von Mama ist.
Samuel wartet also nicht so ungeduldig auf eine Antwort, dass er eine weitere Nachricht geschickt hätte. Ich weiß nicht, warum mich das enttäuscht, obwohl ich es nicht wirklich erwartet habe. Wie bei einem guten Essen hebe ich mir das Beste bis zum Schluss auf und lese deswegen zuerst, was Mama geschrieben hat.
»Kannst du bei Großvater vorbeischauen und fragen, ob er was aus dem Supermarkt braucht?«
Ich seufze. Dass mir Mama immer damit in den Ohren liegt. Ich antworte rasch:
»Keine Zeit. Hausaufgaben.«
Und jetzt tue ich es. Ich öffne die Nachricht. Erst trinke ich aber noch mein Glas in einem Zug leer und verschlucke mich. Ich huste ein paar Mal, ehe ich mich beruhigt habe. Dann tippe ich auf seinen Namen, Samuel, und schließe einen Augenblick lang die Augen, ehe der Text auftaucht:
»Hi Anna!«, steht da. »Hast du Donnerstag nach der Schule Zeit?«
Sonst nichts. Kein Punkt, Punkt, Punkt. Keine Emojis. Nichts. Das liest sich wie der Gegensatz einer Textnachricht, es ist eine Anti-Textnachricht. Sie besagt nichts.
Ich starre das Knäckebrot an, als sei das Knäckebrot schuld. Ich habe keinen Appetit mehr. Ich gehe in die Küche und werfe es in den Müll. Dann fällt mir ein, dass Mama es vielleicht bemerkt und mich ausschimpft, weil ich Essen wegwerfe. Widerwillig beuge ich mich vor und wühle im Mülleimer, damit das Knäckebrot nicht oben liegt. Ich räuspere mich, obwohl nur ich in der Küche bin. Einen Augenblick lang wünsche ich mir, ich hätte eine Katze oder einen Wellensittich, ein Wesen, mit dem ich reden kann, ohne dass es antwortet, das mir aber zumindest zuhört, denn ich verspüre Lust, etwas laut zu sagen und nicht nur zu denken, weil das mit Samuel so viel Platz einnimmt.
Ob ich Donnerstag nach der Schule Zeit habe, hat er gefragt.
Da gibt es nichts zu deuten. Vielleicht ist es eine Falle? Vielleicht will er, dass ich »Ja!« antworte, und dann macht er einen Screenshot und teilt ihn mit der halben Welt. »Sie glaubt wohl, dass ich mich für sie interessiere. Was bildet die sich ein?« Aber dafür gibt es keinen Anhaltspunkt. Wenn ich das Ausrufungszeichen wegnehme und durch ein Fragezeichen ersetze, hört es sich vielleicht skeptisch und uninteressiert an? »Ja?« Dann kann er doch wohl nicht behaupten, dass ich mir was einbilde?
Ohne weiter darüber nachzudenken, tue ich genau das. Ich antworte genau so, halb abwartend, dann werfe ich das Handy aufs Sofa, als würde es brennen. Das tut es beinahe auch. Ich stehe vor dem Sofa und starre es an. Wann wird er antworten? Sofort? In drei Tagen? Dann ist allerdings schon Donnerstag, und dieser Film …
Scheiße! Ich habe für Donnerstag schon Pläne. Amanda und ich haben uns letzte Woche verabredet. Ich hatte nicht mal daran gedacht, weil sonst nie jemand fragt, ob wir etwas unternehmen können, deswegen brauche ich mir auch nie was aufzuschreiben. Es läuft ein Film im Kino, den wir sehen wollen.
Vielleicht meint er ja das? Vielleicht will er mich ja ins Kino einladen?
Amanda ist sicher wenig erbaut, wenn ich absage, jedenfalls, wenn ich wegen eines Jungen absage, vor dem sie mich gewarnt hat. Es würde allerdings auch keinen Unterschied machen, wenn es wegen eines Mädchens wäre. In der Siebten kam Kurzhaar-Line in unsere Klasse und fragte mich ein paar Mal, ob sie zu mir nach Hause kommen dürfe. Beim dritten Mal sagte ich Ja. Amanda sah, dass wir nach der Schule zusammen zu mir gingen und schickte mir eine Nachricht, ein Wort: »Verräterin«. Dann sprach sie eine ganze Woche lang nicht mit mir und sagte nicht mal Hallo. Ich war in den Pausen allein, denn ich traute mich nicht mehr, mich zu Line zu gesellen.
Anschließend einigten wir uns darauf, nie jemanden der anderen vorzuziehen. Amanda setzte einen feierlichen Vertrag auf. Ich verlor kein Wort darüber, dass ich ihr Line nie vorgezogen hatte, denn Amanda und ich hatten am fraglichen Tag ohnehin nichts geplant. Aber so kam es dann. Wir unterschrieben. Eigentlich sollte das für uns beide gelten. Aber so funktioniert es nicht. Amanda geht auf Partys und zieht oft andere vor. Aber ich kann besser damit umgehen. Ich habe meine Bücher und bin lieber allein als Amanda. Außerdem bin ich es ja, die sich glücklich schätzen kann, Amanda zur Freundin zu haben, und nicht umgekehrt. Sie kann es sich aussuchen. Ich hätte niemanden, mit dem ich zusammen sein kann, wenn sie nicht wäre. Ich hatte deswegen schon Albträume. Dass mich Amanda abserviert. Dann wache ich auf, und es schmerzt mich von der Magengrube bis zu den Rippen. Ich mag Amanda so sehr, dass ich es im ganzen Körper spüre. Nicht wie eine Verliebtheit, mehr wie eine überschwängliche Dankbarkeit, einen Stolz.
Nach fünf Minuten komme ich zu dem Schluss, dass ich nicht den Nerv habe zu warten.
Mama meinte, dass die Fahrradkette geölt werden muss, als ich gestern nach Hause kam.
Das kann ich machen. Ich kann die Kette ölen.
Ich lasse das Handy liegen und gehe in die Garage.
Hier draußen höre ich es nicht.
Das Fahrrad ist nicht neu. Großvater hat es mir vor Jahren geschenkt. »Das kannst du lange benutzen, auch noch wenn du groß bist«, sagte er auf Samisch. »Uhca Ánne.« Kleine Anna. Er stellte den Sattel so weit runter wie möglich, aber er war trotzdem noch zu hoch. Es fühlt sich nicht so an, als wäre das ewig lange her. Doch jetzt ist das Rad fast zu klein. Mama hat den Sattel schon einige Male hochgestellt. Jetzt ist er so hoch, wie es nur geht. Vermutlich ist mein Vater schuld daran. Mama und Großvater sind klein, es kann also nur an dem Mann aus der Türkei liegen. Immer gerate ich irgendwie dazwischen, ich bin immer weder das eine noch das andere.
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