Lajla und Sara sind beste Freundinnen, ein eingespieltes Team. Doch plötzlich ist Sara wie ausgewechselt, ihr Blick leer, ihre Schlagfertigkeit verschwunden, sie hat Angst vor ihrem eigenen Schatten. Und selbst wenn Lajla verspricht, nicht nachzubohren – sie muss den Mistkerl finden, der Sara vergewaltigt hat. Schweigen wäre falsch!
Mit größter Einsicht und Sensibilität findet Kathrine Nedrejord Worte für die Angst, Wut und Verzweiflung eines jungen Mädchens und erzählt zugleich eine bewegende, klug komponierte Geschichte über Freundschaft und Loyalität.
Ein wichtiges Buch zu einem erschütternden Thema!
Kathrine Nedrejord
Aus dem Norwegischen
von Lotta Rüegger und Holger Wolandt
Für Maret Lajla
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
MANCHE ERINNERUNGENverändern sich im Nachhinein. Als lege das Gedächtnis einen rosaroten Filter darüber, weil du begreifst, dass damals zum letzten Mal alles gut war. Weder Sara noch ich wissen, dass dies ein solcher Augenblick ist, als wir uns an einem Samstagvormittag Anfang September nach meinem Fußballtraining vor der Sporthalle treffen. Die herbstlichen Farben blitzen zaghaft hervor. Karasjok wirkt müde und entspannt wie wir alle. Wir glauben, ein ganz normales Wochenende würde beginnen.
Sara kaut Kaugummi, pustet Blasen, sagt, dass sie am Kiosk mit ein paar Leuten aus der Zwölften gestritten hat, während sie auf das Ende des Trainings wartete.
»Die glauben wirklich, dass dieses eine Jahr, das sie mir voraushaben, sie unschlagbar macht«, meint sie. »Aber ich habe ihnen die Mäuler gestopft.«
»Und zwar wie?«, will ich wissen.
»Ich hab’ was über Inzucht und IQ gesagt«, erklärt sie grinsend.
Dann lacht sie übertrieben dreckig.
Ihr Hexengelächter, wie sie es nennt.
Ich lächle kopfschüttelnd.
»Irgendein Tor geschossen?«, fragt sie und deutet mit dem Kopf auf die Sporthalle hinter uns.
»Ja, klar«, antworte ich.
»Aber nicht so viele wie Máhtte«, stichelt sie.
Sie weiß, wie sehr es mich stört, dass mein kleiner Bruder allgemein für sein sportliches Talent bekannt ist. Obwohl ich zwei Jahre älter bin, habe ich diesen Status nie auch nur annäherungsweise erreicht. Wenn die Leute meinen Nachnamen hören, dann denken sie gleich an Máhtte. Sara weiß, wie sehr mich das nervt. Als Antwort gähne ich nur. Sara knufft mich in die Seite.
»Keine Panik«, sagt sie. »Du holst Gold, wenn es nach mir geht.«
»Es geht aber nicht nach dir«, seufze ich.
Ich schließe mein Fahrrad auf und schiebe. Sara hasst Fahrräder, also bleibt mir nichts anderes übrig, als zu Fuß zu gehen, obwohl der Weg von der Sporthalle ins Zentrum ganz schön weit ist. Wir sind allein mit der Straße und den Bäumen. Karasjok – der Ort auf der Landzunge im Fluss, wie unser Norwegischlehrer aus dem Süden in der ersten Stunde zufrieden verkündete. Das hatte er sich angelesen. Er wollte uns beweisen, dass er kein dummer, unwissender Norweger ist. Und wirkte gerade deswegen erst recht wie einer.
»Was hast du heute Abend vor?«, frage ich. Das ist eine vollkommen harmlose Frage, und ich ahne nicht, dass ich mir über diese Unterhaltung bald das Hirn zermartern und nach Anhaltspunkten suchen werde.
»Klemet«, antwortet Sara und bläst noch eine Kaugummiblase.
Ich verziehe das Gesicht. Sara, der das nicht entgeht, hebt die Augenbrauen.
»Er ist ganz in Ordnung, wenn man mit ihm allein ist«, sagt sie.
»Schon gut«, erwidere ich.
Sara lacht.
»Herrgott, Lajla!«, sagt sie. »Du bist so eine schlechte Lügnerin.«
»Ich lüge nicht.«
»Du hasst ihn doch.« Sie lacht und knufft mich schon wieder.
Aber da täuscht sie sich. Ich hasse Klemet nicht. Ich begreife nur nicht, was jemand wie Sara in ihm sieht. Sie, zierlich-klein, mit kohlrabenschwarzem Haar und schmalen Augen – hübsch, aber nicht auf diese durchschnittliche Art, immer ohne Makeup, aber in Kleidern, die ihr viel besser stehen als allen anderen. Streifen, Muster, Farben. Sara ist der einzige Grund dafür, warum ich die Weiterführende Schule hier im Ort gewählt und mir nicht ein Zimmer in Alta genommen habe.
Und wer ist Klemet schon? Ein Achtzehnjähriger, der letztes Jahr die Schule geschmissen hat. Er ist das schwarze Schaf der Familie und kriegt nichts von dem hin, was sein großer Bruder Jonas schafft. Dass sie überhaupt Geschwister sind, ist ein Rätsel. Jetzt arbeitet Klemet Teilzeit bei Rema 1000 , dem Supermarkt im Zentrum, und schraubt an Autos herum, obwohl er bei der Fahrprüfung durchgefallen ist. Nächsten Monat will er es angeblich noch einmal versuchen. Durch Sara weiß ich mehr über sein Leben, als mir lieb ist. Groß, dünn und bleich ist er. Und trägt nie etwas Buntes. Ich wette, dass er nur selten lacht.
Vielleicht bin ich ja auch nur eifersüchtig. Bevor Klemet irgendwann im Sommer aufgetaucht ist, waren wir alles füreinander, Sara und ich. Ja, ich hatte auch noch den Fußball, und ja, Sara hat damals schon Gitarre gespielt, aber wir hatten immer sehr viel Zeit füreinander. Jetzt hat sich Klemet zwischen uns gedrängt und sorgt für Unruhe. Ein Rivale, denke ich, obwohl ich für Sara etwas anderes sein will als Klemet. Das ist schwierig. Ich will, dass sie glücklich ist. Aber, wenn möglich, mit jemand anderem als Klemet.
Mama sagt, wir seien sehr unterschiedlich, Sara und ich. Sie ist klein und dunkelhaarig, und ihre Erscheinung hat etwas beinahe Feindseliges. Ich bin groß und blond und lächle meistens, jedenfalls solange wir die Spiele gewinnen. So wirkt es vielleicht von außen, aber zwischen uns, zwischen Sara und mir, gibt es so viel mehr als diese Kontraste. Wäre Sara nicht in meiner Klasse gewesen, dann hätte ich die zehn Jahre Grund- und Mittelstufe wahrscheinlich nicht durchgehalten.
Sowohl Saras als auch meine Mutter stammen von Sámi mit nomadischem Lebensstil ab. Die Familien unserer Väter waren hingegen immer sesshaft. Für Leute außerhalb Karasjoks mag das irgendwie unwichtig klingen. Aber hier verläuft oft ein Graben zwischen diesen beiden Lagern. Die Nomaden gegen die Sesshaften, und die Sesshaften gegen Nomaden. Sara und ich sind weder das eine noch das andere. Vielleicht hätten wir auf beiden Seiten stehen können, stattdessen gehören wir keiner der Gruppen an. Denn es ist schwer, sich gegen einen Teil seines Erbes zu wenden. Also gab es immer nur uns beide. Ohne Herde. In der Grundschule gab es viel Streit, Mobbing und Fronten zwischen den Bankreihen.
Glücklicherweise ist dieses Klassenzimmer Vergangenheit. Und glücklicherweise sind Sara und ich in den Unterrichtsstunden immer noch zusammen, allerdings mit vielen anderen Leuten um uns herum. Die Mädchen, die in der Mittelstufe am gemeinsten waren, wie Anne-Biret mit dem Schmollmund und den blond gefärbten Haaren, haben nichts mehr zu sagen. Sie versuchen es nicht einmal mehr. Als wären wir mittlerweile zu groß, um Feindinnen zu spielen. Aber Sara ist immer noch die, die mir am meisten bedeutet.
Darum ist dieser Augenblick, in dem wir zwei nichtsahnend die Straße entlangschlendern, so wichtig. Sara bietet mir einen Kaugummi an, und wir gehen blasenpustend weiter.
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