»Sieh zu, dass du genug Schlaf bekommst«, sagt sie.
»Gute Nacht«, erwidere ich rasch und schließe vorsichtig die Tür, weil ich weiß, wie Anne-Birets Kaninchen auf abrupte Bewegungen reagiert. Sara senkt die Decke einen Zentimeter, nicht mehr. Sie flüstert:
»Erzähl’ ihnen nicht, dass ich hier war.«
»Natürlich nicht.«
Ich schlucke.
»Aber was ist denn passiert?«
Sara schüttelt den Kopf.
»Vergiss es, nichts Wichtiges.«
Aber uns beiden ist klar, dass das schlichtweg gelogen ist.
Ich habe Lust, nachzuhaken. Sie erzählt mir doch sonst immer alles, selbst die schlimmsten Sachen. Ich weiß alles über die Probleme ihrer Mutter nach der Scheidung von ihrem Vater. Ihr Vater zog mit einer neuen Frau nach Utsjok hinter der finnischen Grenze, und ihre Mutter hörte auf zu arbeiten, leerte die Flaschen in der Hausbar und kaufte anschließend die Ladenregale leer, um sich zu trösten. Damals hat mich Sara nie zu sich nach Hause eingeladen und oft bei mir übernachtet. Sie behauptete, fast genauso wütend auf ihren Vater zu sein wie ihre Mutter. Und dass sie einerseits Verständnis für die Mutter habe, andererseits aber auch nicht, weil da noch die erst achtjährigen Zwillinge seien, für die sie sich hätte zusammenreißen müssen. Ich begleitete Sara zur Gemeindeschwester und war stolz auf sie, als sie vorschlug, dass die Zwillinge und sie eine Weile bei ihrer Tante auf der anderen Straßenseite wohnen könnten. Sie hatte bereits mit der Tante geredet. Weil es ihre Mutter verletzen würde, wollte sie nicht, dass sie erfuhr, dass es Saras Idee gewesen war. Sara wirkte so erwachsen. Ich saß neben ihr und dachte, dass es mir in einer vergleichbaren Situation niemals gelungen wäre, sowohl an Máhtte als auch an mich zu denken. Wahrscheinlich hätte ich nur unablässig geweint und mir selbst leidgetan. Eine Lösung hätte ich mir bestimmt nicht einfallen lassen.
›Sara die Starke‹, taufte ich sie.
Dieselbe Sara, die jetzt die Lippen zusammenpresst.
Da mir nichts Besseres einfällt, strecke ich die Hände aus, um sie zu umarmen. Aber da zuckt Sara zusammen und stößt mich so heftig weg, dass ich auch danach noch ihre wütenden Handflächen auf meinem Brustkorb spüre. Ich weiche zwei Schritte zurück, stoße gegen die Schreibtischkante und kann nur mit Mühe das Gleichgewicht halten.
»Au!«, sage ich, etwas zu laut, etwas zu schroff.
Sara sieht mich verängstigt an.
»Sorry! Sorry! Sorry!«, sagt sie, aber ihr Blick ist immer noch derselbe, entsetzt.
Vorsichtig fasse ich mir an die Stelle, wo sie mich gestoßen hat. Es tut zwar nicht furchtbar weh, aber ich fühle mich überrumpelt. Wir sind so spät Freundinnen geworden, dass die Zeiten, in denen man sich prügelte, vorbei waren. Und wir geraten uns auch nicht, wie viele andere Mädchen, bei jeder Gelegenheit in die Haare. Wir haben immer einen gewissen Abstand gewahrt. Bis jetzt.
Sara legt sich hin und schließt vorsichtig die Augen.
Ich sehe, dass sich ihre Lider bewegen. Papa hat mal erzählt, dass man einem Schlafenden so ansieht, ob er sich mitten in einem Traum befindet. Aber Sara schläft und träumt nicht.
Die Ärmel des Pullovers rutschen ein wenig hoch.
Ich sehe die Kratzer und nehme mir vor, Klemet eine Abreibung zu verpassen. Er ist kaum stärker als ich, rein körperlich. Vielleicht ist er stärker als Sara, aber nicht als ich.
»Sara«, sage ich bittend.
Sie öffnet die Augen und sieht, dass ich ihre Handgelenke betrachte. Jetzt versucht sie nicht mehr, sie zu verbergen, sondern sieht mich nur an.
»Ich kann nicht, Lajla«, sagt sie.
Sie erklärt nicht, was sie nicht kann.
Aber ihre Antwort ist so unverrückbar, so endgültig.
Und dann noch einmal:
»Ich kann es einfach nicht.«
Ich antworte nicht.
Sie kneift die Augen zusammen, und ihre Stimme ist fast unhörbar:
»Sonst bringt er mich um.«
Es ist Montag, und ich warte auf Sara.
Wir treffen uns immer vor der Schule, bevor es zur ersten Stunde klingelt.
Als sie gestern aus dem Fenster gesprungen ist, hat sie noch gerufen: »Bis morgen!«
Ich warte also immer noch. Unser Norwegischlehrer hat sicher schon mit seinem altnordischen Zeugs angefangen. Sara kommt nie zu spät. Sara beantwortet immer ihre SMSe. Sara schwänzt nicht. Bereits vor dem Sommer hat sie mir die Anwesenheitsregeln in der weiterführenden Schule erklärt, und wie wichtig es sei, diese zu befolgen, um nicht in irgendeinem Fach durchzufallen. Sie tat das eigentlich mehr meinetwegen als um ihrer selbst willen. Sie hat immer etwas weniger gefehlt als ich und hat bessere Noten als ich. Und wenn ich etwas sage, dann meine ich wahnsinnig viel . Schließlich will Sara hoch hinaus. Sara will Ärztin werden.
Ich schicke die vierte SMS:
»Wo bist du? Bist du krank?«
Eigentlich müsste ich reingehen. Ich müsste atemlos eine Entschuldigung vorbringen, um meine Note nicht aufs Spiel zu setzen. Außerdem ist es ziemlich kühl. Ich habe die Jeansjacke angezogen, obwohl Mama protestiert hat und mich dazu überreden wollte, die Winterjacke anzuziehen. Es ärgert mich, wenn Mama recht hat. Es ärgert mich, dass Sara nicht antwortet. Aber es sind verschiedene Arten von Ärger. In meinen Ärger über Sara mischt sich das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Ich hätte sie in der Nacht zum Sonntag nicht nach Hause lassen dürfen, ohne eine einzige Antwort erhalten zu haben. Ich rufe sie an.
Es klingelt und klingelt, fordernd.
Dann endlich höre ich Saras Stimme, obwohl ich mir erst gar nicht so sicher bin, dass es ihre Stimme ist. Sie klingt ganz schwach:
»Ja? Ich bin’s.«
»Wo steckst du?«, frage ich.
Eine lange, fast unendliche Pause. Ich will schon fragen, ob sie noch da ist, als sie endlich antwortet:
»Zu Hause.«
»Kommst du heute nicht in die Schule?«, will ich wissen.
Wieder eine kleine Pause.
»Nein, ich glaube nicht.«
Es ist ihre Stimme, und auch wieder nicht. Sie klingt fern, als befände sie sich in den USA und als müssten ihre Worte einen meilenweiten Weg durch Kabel und Netzwerke zurücklegen, um mich zu erreichen. Aber sie ist, soweit ich weiß, weniger als einen Kilometer entfernt.
»Ist es wegen dieser Sache am Wochenende?«, frage ich.
»Hör doch auf damit!«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Oh.«
»Lass es einfach, okay?«
Ich flüstere ein Ja.
Es wird wieder still. Lange. Ich muss etwas sagen.
»Kommst du morgen?«
»Natürlich«, antwortet Sara.
Dann beeilt sie sich, das Gespräch zu beenden, ehe ich weitere Fragen stellen kann. Ich schaue auf das Display, als wäre das Handy an der seltsamen Unterhaltung schuld. Ich habe einen Fehler gemacht, denke ich. Ich hätte sie ausfragen müssen, als sie bei mir zu Hause war. Aber sie hat sich geweigert. Jedes Mal, wenn ich mich dem Thema näherte, hat sie von etwas anderem geredet oder sich unter der Decke verkrochen und so getan, als würde sie mich nicht hören. Lass mich in Ruhe, schien sie zu sagen. – Und zwar so nachdrücklich und deutlich, dass ich einfach nur gehorchen konnte.
Ich schaue auf die Uhr über dem Eingang. Die Stunde ist noch nicht vorbei. Wenn der Norwegischlehrer gute Laune hat, ignoriert er meine Verspätung vielleicht. Aber andererseits –
Das ist nicht in Ordnung. Es ist falsch, dass Sara zu Hause ist und dass mir mein unentschuldigtes Fehlen mehr Sorgen bereitet als ihre Probleme, oder?
Genau, so ist es.
Ich kann sie jetzt nicht im Stich lassen, denke ich. Aber was kann man tun? Wenn sich die beste Freundin seltsam benimmt und nicht reden will? Ich bin irgendwie in meinem Unwissen gefangen. Eigentlich müsste sich etwas herausfinden lassen.
Aber wie?
Statt in den Unterricht zu gehen, nehme ich Kurs auf den Supermarkt. Klemet. Was soll ich ihm sagen? Ich muss ihn ausfragen. Ich habe keine Angst. Nicht vor Klemet. Er war zwar nie besonders nett zu mir, aber zu den superbeliebten Leuten gehört er auch nicht. Und mir ist es schließlich gelungen, die rabiate Anne-Biret samt Schere in der Hand in die Knie zu zwingen.
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