Und was Klemet getan hat, denke ich, obwohl ich mir nicht ganz sicher sein kann, ist nicht gut. Das ist einfach nicht normal, denke ich. Sonst wäre Sara heute in der Schule und würde neben mir in der Klasse sitzen und mich anstupsen, sobald ich ins Träumen gerate, damit ich auch ja die wichtigsten Dinge für die nächste Klassenarbeit mitbekomme. Sara hält mich bei der Stange. So ist es einfach. So soll es sein. Verdammter, beschissener Klemet. Nur er kann sie bedroht haben.
Sie hat es nur einmal gesagt, sehr leise zwar, aber deutlich genug. Sie hat keinen Namen genannt, aber wer hätte es sonst sein sollen? Klemet bringt sie um, wenn sie was sagt. Verfluchter, tragischer, pathetischer, verdammter Klemet, denke ich. So ein Idiot.
Ich schlendere in den Rema 1000 , der zu dieser Tageszeit fast leer ist. Eine ältere Frau in geblümter Wolljacke mit dazu passender roter Kopfbedeckung türmt Hühnerfilet-Pakete, die im Sonderangebot sind, in ihren Korb. Das Personal steht bei den Milchprodukten. Ich gehe dorthin. Die meisten kenne ich vom Sehen. So groß ist Karasjok nicht, dass man den Überblick verlieren könnte.
»Ist Klemet da?«, frage ich.
Sie schauen mich kritisch an.
»Bist du nicht die große Schwester von Máhtte?«, fragt eine. Alle kennen Máhtte. Alle wissen, dass er einer der besten Spieler der Fußballmannschaft ist und vielleicht sogar einmal mit einem Spielervertrag von hier wegkommt. Aber Máhtte ist mir egal. Ganz gleichgültig, wie viele Tore er schießt, zu Hause ist er eine Nervensäge und ärgert mich.
»Klemet?«, sage ich noch einmal.
Eine zuckt mit den Achseln.
Wenn sie nicht sofort antworten, schüttle ich gleich jemanden, denke ich. Keiner sieht besonders stark aus, sie wirken blass, dünn und uninteressiert. Sie sehen aus, als hätte die dunkle Jahreszeit bei ihnen schon begonnen und sie befänden sich bereits im Winterschlaf.
»Vermutlich ist er zu Hause«, sagt eine von ihnen. »Er hat heute keine Schicht.«
Er wohnt auf der anderen Seite des Flusses.
Wenn ich mich beeile, komme ich noch rechtzeitig zur zweiten Stunde. Mathe. Es ist aber keine Katastrophe, wenn ich sie verpasse. In der dritten Stunde ist Sport – das einzige Fach, in dem ich besser bin als Sara. Da kann ich locker hingehen, aber vorher will ich noch mit Klemet sprechen. Ich gehe also wieder und überhöre den Ruf einer der Bleichen, Lethargischen, dass ich mich ruhig für die Hilfe bedanken könnte.
Ich beeile mich. Jetzt werde ich Klemet aufspüren.
Noch bevor ich um die Ecke biege, höre ich Wasser plätschern.
Das Haus ist rot, mit weiß umrahmten Fenstern. Ich bin hier schon oft vorbeigegangen. In dieser Straße, der ersten links hinter der Brücke, kenne ich ziemlich viele Leute. Ich sehe seinen Rücken vor dem Auto, das frisch gewaschen glänzt, während er den Wasserstrahl noch einmal darüber hinweggleiten lässt.
»Du!«, sage ich, nicht etwa Hallo , auch nicht Entschuldige , aber wofür hätte ich auch um Entschuldigung bitten sollen? Ich sage nicht Klemet , sondern du . So frech und unpersönlich wie nur möglich. Papa hat Máhtte einige Male zurechtgewiesen: So redet man nicht mit den Leuten . Es fühlt sich wunderbar an, auf die Manieren zu pfeifen. Ich habe es nicht nötig, umgänglich und höflich zu sein.
Er dreht sich um, einen Augenblick lang bin ich verwirrt, dann bin ich nur noch erleichtert. Das ist gar nicht Klemet, das ist sein großer Bruder. Das hätte ich mir ja gleich denken können. Schließlich ist das sein Auto. Klemet hat ja noch gar keinen Führerschein. Und sein großer Bruder Jonas ist ein ganz anderes Kaliber als dieser Blödmann Klemet. Ich erinnere mich an damals, als ich auf dem Heimweg entdeckte, dass mir jemand, höchstwahrscheinlich Anne-Biret, Milch in den Schulranzen gekippt hatte. Ich stand an der Brücke und flennte, damals muss ich neun oder zehn gewesen sein. Jonas kam vorbei und sah mich erstaunt an. Und obwohl er damals schon ein Teenie war und viel zu cool, um sich um eine heulende Rotznase wie mich zu kümmern, blieb er stehen und half mir. Er kramte Papiertaschentücher hervor, wischte das Schlimmste auf und meinte, nur feige Idioten täten so etwas. Ich solle am nächsten Tag einfach mit erhobenem Kopf in die Schule gehen und so tun, als sei nichts geschehen. Mir wäre wirklich lieber gewesen, wenn Sara und Jonas ein Paar geworden wären, und nicht Sara und der mürrische Klemet. Zum tausendsten Mal denke ich: Was sieht sie nur in ihm? Ich habe sie mal direkt gefragt, und da hat sie geantwortet: Man kann gut mit ihm reden . Das klang nicht sehr überzeugend. Wenn sie sich doch nur jemand anderen ausgesucht hätte, dann würde ich jetzt neben ihr im Klassenzimmer sitzen, sie würde fleißig mitschreiben, und ich weniger fleißig.
»Na, ist das nicht die Schwester von Máhtte?«, erkundigt sich Jonas freundlich und fährt sich mit der Hand durch sein kurzes braunes Haar.
Nächstes Mal, wenn Máhtte irgendeinen Unsinn anstellt, werde ich die Gelegenheit ergreifen und ihm die Ohren langziehen. Ich höre seinen Namen tatsächlich öfter als meinen eigenen. Und irgendwie ist das seine Schuld. Wenn er wüsste, wie sehr mich das ärgert, würde er sich riesig freuen. Dieser affige Kerl spielt immer gerne den Überlegenen.
»Ist Klemet da?«, frage ich.
Jonas schneidet eine Grimasse.
»Ach der«, sagt er, »ich glaube, der schnarcht noch. Wenn er freihat, steht er erst zum Abendessen auf.«
Jonas lacht kurz über seinen Bruder. Meine Wut kriegt einen leichten Dämpfer. Er redet über Klemet, als wäre er ungefährlich, fast ein lieber Kerl. Jetzt lächelt er auch noch.
»Aber mach einfach die Tür auf und ruf ihn.«
Ich nicke.
»Du bist doch die Freundin von seiner Braut, nicht wahr?«, sagt er dann.
»Ja«, erwidere ich.
Endlich ist Máhtte vergessen, denke ich.
»Geh einfach rein und weck ihn.« Jonas blinzelt mir zu, nimmt dann einen Abzieher und fährt damit über die nasse Windschutzscheibe. »Und wenn er nicht reagiert, dann komme ich selbst und schleife ihn aus dem Bett … Das ist ja kein Zustand! Er ist zu alt, um die Tage zu verschlafen.«
Nervös gehe ich weiter. Ich versuche, zu meinem Ärger von vorhin zurückzufinden. Wenn der Bruder mehr wie Klemet gewesen wäre, würde mir das leichter fallen.
Ich öffne die Haustür und latsche ins Haus. Jetzt traue ich mich nicht, noch mal einfach nur »Du!« zu rufen.
»Klemet!«, rufe ich.
Keine Antwort.
Idiot, denke ich. Feigling, denke ich. Die Wut ist wieder da.
»Klemet, bist du da?«
Eine verschlafene Stimme aus einer halb offenen Tür am Ende der Diele.
»Ja?«
Zögernd gehe ich auf die Tür zu. Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll. Und es wäre mir peinlich, wenn er halb nackt oder, noch schlimmer, ganz nackt wäre.
»Ich bin’s, Lajla.« Ich versuche, ihn zu warnen.
Ich höre Schritte. Nackte Füße, vermute ich. Dann steht er plötzlich in der dunklen Diele mit haarigen Jungenwaden, in Boxershorts und einem garantiert geerbten verwaschenen T-Shirt, auf dem Metallica steht.
»Was willst du denn hier?«, fragt er.
Ich begreife wirklich nicht, was Sara in ihm sieht. Sein Gesicht, die Pickel auf seiner Stirn, die krumme Haltung. Er ist alles andere als umwerfend und charmant.
»Da musst du noch fragen?«, sage ich ungeduldig, weil ich zur Sache kommen will.
»Ja?«
Seine Stimme ist zu hoch, obwohl er seinen Stimmbruch schon längst hinter sich haben muss. Sie klingt wie die eines kleinen Jungen.
»Was hast du mit Sara angestellt?«, frage ich und trete einen Schritt auf ihn zu.
»Hä? Hast du etwa mit ihr geredet?«
Einen Augenblick lang sieht er verwirrt aus. Dann fährt er fort:
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