»Kannst du ihr sagen, dass sie verdammt noch mal meine Nachrichten beantworten soll!«
»Kapierst du nicht, warum sie nicht antwortet?«, frage ich, und jetzt zittern meine Arme, während ich die Hände zu Fäusten balle. »Du hältst dich wohl für besonders tough, wenn du auf ein Mädchen losgehst, das einen halben Meter kleiner ist als du? Das ist so verdammt feige, dass ich einfach …«
Klemets Gesicht sieht seltsam aus. So verändert.
Seine Augenbrauen sind bis zum Haaransatz gewandert.
»Losgehen? Was soll das?«, murmelt er. »Behauptet Sara, dass ich auf sie losgegangen bin? Verdammte Scheiße! Erst taucht sie am Samstag einfach nicht auf, und dann läuft sie rum und sagt, dass …«
Ich stutze.
»Sie ist am Samstag gar nicht bei dir gewesen?«
Klemet schüttelt so nachdrücklich den Kopf, dass sein fettiges dunkles Haar hin und her fliegt.
»Bist du sicher?«, frage ich.
»Hundertzehn Prozent.«
Ich starre ihn an. Versuche herauszufinden, ob er lügt oder nicht. Dass er im Prozentrechnen noch schlechter ist als ich, lasse ich auf sich beruhen.
Es ist unmöglich, seine Miene zu deuten. Ein Rätsel, wie sich Sara in dieses finstere Gesicht verlieben konnte. Man kann gut mit ihm reden , von wegen.
Dann drehe ich mich um und gehe. Obwohl mir Klemet hinterherruft, drehe ich mich nicht um.
»He! Du! Sorg dafür, dass Sara antwortet!«
Jonas und das Auto sind weg, als ich aus der Tür trete. Eigentlich bin ich erleichtert, denn ich habe jetzt keine Lust auf Konversation.
Ich gehe zur Auffahrt, irgendwas stimmt nicht. Ich habe das Gefühl, dass noch jemand da ist. Jonas ist weg. Das Auto auch. Aber ich spüre noch jemanden. Das Haus liegt am Fluss. Vielleicht habe ich ja am anderen Ufer aus dem Augenwinkel etwas wahrgenommen. Ich schaue hinüber, nehme aber plötzlich eine Bewegung seitlich wahr. Schnell drehe ich mich um. Es muss auf der anderen Seite des Zauns gewesen sein. Das rote Haus, in dem der Arzt des Ortes, der aus dem Süden, wohnt. Eine Gardine hat sich bewegt. Das kann nicht der Arzt sein, weil der im Gesundheitszentrum ist, aber ich weiß natürlich, dass er eine Familie hat. Seine Frau arbeitet in der Gemeindeverwaltung, und der Sohn geht in unsere Klasse. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich ihn heute vor der Schule gesehen habe. Sicher hat er das Zimmer im ersten Stock, in dem sich die Gardine bewegt hat.
Er heißt Ulrik.
Niemand aus dem Ort hätte sein Kind Ulrik getauft. Ein solcher Name riecht nach Häusern im Alpenstil mit Apfelbäumen und nicht nach Mückennetzen und Schnee-Scootern.
Ich betrachte das Fenster und zögere. Von dort aus bietet sich eine gute Aussicht auf den Platz, auf dem ich stehe. Wenn Klemet lügt und Sara doch hier war, dann ist es nicht unmöglich, dass die Person im ersten Stock sie gesehen hat. Insbesondere Ulrik, der, seit er in der Neunten hierhergezogen ist, kaum Freunde gefunden hat, denke ich.
Soll ich? Soll ich nicht?
Ich habe keine Blume, deren Blütenblätter ich abzupfen könnte, um zu einer Entscheidung zu kommen. Also entscheide ich selbst.
Ich soll.
Für Sara, denke ich, aber ich weiß, dass es genauso für mich ist.
Ich klingle und versuche mir in Erinnerung zu rufen, was ich über Ulrik weiß.
In der Mittelstufe hat er die norwegische Klasse besucht, während ich in der samischen war. Ich habe kaum ein Wort mit ihm gewechselt, bevor wir in der weiterführenden Schule in derselben Klasse gelandet sind. Mir sein Gesicht vorzustellen, ist nicht ganz einfach, weil ich ihn nie sonderlich beachtet habe. Er gehört zu den Leuten, die nur wenig sagen, sich selten im Unterricht melden und rot werden, wenn man Hallo sagt. Schüchtern, denke ich. Blondes, farbloses Haar. Ebenso farblose graue Augen. Er hält sich an Gleichgesinnte. Ich glaube, sie verbringen ihre Zeit mit Gaming. Auf dem Fußballplatz habe ich ihn noch nie gesehen, aber besonders untrainiert wirkt er auch nicht. Ob er okay ist? Keine Ahnung.
Ich starre auf die Tür.
Seit ich geklingelt habe, sind mehrere Minuten vergangen, aber kein Anzeichen, kein Geräusch deutet darauf hin, dass die Person kommt, die sich dort drinnen versteckt und die mit ziemlicher Sicherheit Ulrik heißt. Ich merke, dass ich wütend werde. Ist er so schüchtern, dass er sich nicht an die Tür traut?
Ich klingle ein weiteres Mal und halte meinen Finger lange auf dem Knopf, damit Ulrik nicht so tun kann, als hätte er es nicht gehört.
Es dauert einen Augenblick, dann höre ich Schritte.
Ulrik öffnet mit hochroten Wangen. Sein Haar ist recht kurz geschnitten, von einer Frisur kann aber eigentlich keine Rede sein. Er wirkt fast wie ein junger Mann, der nur darauf wartet, alt zu werden und die dazwischenliegenden Jahre zu überspringen. Von fünfzehn zu fünfundvierzig ohne die Revolte und das Chaos dazwischen. Vermutlich denke ich das nur, weil er mich an seinen Vater erinnert, der um die fünfundvierzig sein muss.
»Hallo«, sagt Ulrik so leise, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich das Wort höre oder nur von seinen Lippen ablese. Also doch nicht ganz der Vater, denke ich. Ich erinnere mich an seinen festen Händedruck bei meinem letzten Arztbesuch.
Ich überlege mir, ob ich ihn fragen soll, warum er nicht beim ersten Klingeln geöffnet hat, aber das wäre vermutlich nur Zeitverschwendung. Wenn ich ihn positiv stimmen will, muss ich behutsam vorgehen.
»Du bist nicht in der Schule?«, frage ich.
Ulrik hüstelt. Also krank, denke ich. Ein ärztliches Attest ist sicher problemlos zu bekommen, wenn man mit dem Arzt des Ortes unter einem Dach wohnt.
»Grippe«, fügt Ulrik leise hinzu.
Ich finde nicht, dass er so krank aussieht, aber ich bin auch kein Lehrer. Es geht mich nichts an, wenn er simuliert. Ich gehe nicht von Tür zu Tür, um zu kontrollieren, ob krankgemeldete Schüler einen triftigen Grund haben, zu Hause zu bleiben. Es geht nur um Sara, ganz allein um Sara. Ein paar Antworten, dann bin ich schon zufrieden.
»Du Ärmster«, sage ich. »Hoffentlich geht es dir bald besser.« Erst mal gute Manieren zeigen, denke ich. Das macht sich immer gut. Und dann:
»Hör mal, Ulrik«, sage ich und versuche freundlich und harmlos zu lächeln. Ob es mir gelingt, weiß ich nicht, aber immerhin wagt er es endlich, mir in die Augen zu schauen.
»Ja?«
»Warst du Samstagnachmittag und -abend zu Hause?«, frage ich.
»Letztes Wochenende?«, will er wissen, und sein Adamsapfel macht einen kleinen Satz. Fast nervös, denke ich.
»Ja.«
Ulrik starrt zu Boden.
»Doch. Ich war hier.«
Es klingt, als hätte er ein wenig den Dialekt der Gegend angenommen. Weniger Südnorwegen, mehr Karasjok. Vielleicht ist er ja doch integrierter, als ich dachte.
»Dann warst du in deinem Zimmer? Das ist doch oben im ersten Stock?«
Überrascht schaut er hoch: »Und wenn?«
»Hast du gesehen, ob Sara zu Besuch war? Du hast doch von hier einen guten Blick auf Klemet und die?«
In seinen Augen regt sich etwas. Sie haben etwas von einem Tier. Wachsam? Oder verängstigt? Ich kann diesen Blick nicht deuten.
»Ich hab’ nichts gesehen«, sagt er abrupt.
»Aber gehört?«, frage ich.
»Frag Sara doch selbst«, erwidert er, dieses Mal fast pampig.
Seine Wangen sind wieder hochrot.
»Mach ich auch«, lüge ich. »Aber kannst du es mir nicht einfach sagen? Ob du sie gesehen hast?«
Er verschränkt die Arme und tritt fast unmerklich einen Schritt zurück.
»Kann mich nicht erinnern«, sagt er.
Ich runzle die Stirn. Was ist bloß los mit ihm? Das ist keine Antwort. Meine Fragen bewegen sich ja nicht gerade auf Mathe-Abiturniveau. Trotzdem sieht er aus wie jemand, der nicht abgefragt werden will.
»Das ist erst zwei Tage her, und du willst dich an nichts erinnern?«, sage ich.
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