Diese Gesetze waren Meilensteine auf dem Weg, Kindern und Jugendlichen ihre Bürger*innenrechte auch tatsächlich zu gewähren. So wichtig diese Schritte auch waren, bleibt doch kritisch zu bemerken, dass diese Regelungen nur eine Top-down-Partizipation vorsehen. Die mittels Demokratie als Regierungsform gewählten Gemeindevertretungen bestimmen Planungen und Vorhaben; erst dann prüfen sie, ob Kinder und Jugendliche davon betroffen sind und ob und wie sie beteiligt werden müssen. Der umgekehrte Weg würde stärker die Prinzipien einer partizipativen Demokratie berücksichtigen. Danach entstehen die Themen der zu entscheidenden Fragen aus den Interessen, Konflikten und Problemstellungen des Zusammenlebens in der Gemeinde. Diese werden in Öffentlichkeiten debattiert, finden darüber auch in die Meinungsbildung der Parteien und führen schließlich zu Entscheidungen der gewählten kommunalen Gremien.
Demnach müssten auch Kinder und Jugendliche Zugang zur kommunalen politischen Öffentlichkeit haben, um ihre Interessen zu artikulieren, um Konflikte und Probleme zu benennen und so Themenstellungen einer gemeinsamen Debatte und letztlich Entscheidungen selbst erzeugen und beeinflussen zu können. Insgesamt ergibt sich der empirische Eindruck, dass eine solche partizipative und öffentliche Demokratie bei den Erwachsenen nicht besonders gut funktioniert beziehungsweise im Wesentlichen beschränkt ist auf politisch ohnehin stark vernetzte und artikulationsfähige Teilgruppierungen. Damit entsteht das Risiko, dass solche politisch engagierten Gruppierungen ihre Teilinteressen mit dem Gemeinwohl verwechseln und sie, ohne große Beteiligung anderer Betroffener durchsetzen. Die Stärkung einer kommunalen, an die lebensweltlichen Themen und unterschiedlichsten Gruppeninteressen wirklich anknüpfenden Demokratie steht also ohnehin an.
Gerade die pädagogischen Organisationen haben hier den Vorteil, dass ihre Adressat*innen sich dort relativ kontinuierlich aufhalten und es damit auch Gelegenheiten gibt, strukturiert und unterstützt ihre lebensweltlichen Themen und ihre Betroffenheit in der Kommune zu erheben. Dann können sie pädagogisch unterstützt werden, ihre Themen, Konflikte und Interessen zu klären und diese in Bezug auf kommunale Öffentlichkeiten zu artikulieren. Anders als in den allgemeinen kommunalen Politikprozessen gibt es also eine Unterstützungsstruktur, die Kinder und Jugendlichen helfen kann, sich in die kommunale Demokratie einzubringen.
Hier zeigen sich die großen Chancen sozialpädagogischer Institutionen, sich als Feld demokratischer Mitgestaltung der Adressat*innen zu strukturieren und von dort Übergänge zu gesellschaftlich-demokratischem Engagement der Kinder und Jugendlichen in die Kommune zu eröffnen. Denn wer sich in Organisationen engagiert, beteiligt sich auch stärker allgemein politisch (European Commission 2013). Damit wird konzeptionell angenommen, dass eine kommunale Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen auf demokratisch strukturierten pädagogischen Institutionen beruhen muss. Ohne eine solche dauerhafte strukturell verankerte Demokratieerfahrung in den pädagogischen Einrichtungen verkommt die kommunale Partizipation schnell zu episodalen Spielweisen der Partizipation (Winklhofer 2000), die ohne eine Stützung durch den Alltag und die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen stark bestimmenden pädagogischen Institutionen kaum qualifiziert werden kann (Gerdes und Bittlingmayer 2012).
Mit den Konzepten und Initiativen, die demokratische Partizipation der jungen Menschen in den Einrichtungen zu stärken, entstand möglicherweise eine zu starke Konzentration oder gar Begrenzung auf die Demokratisierung der Binnenverhältnisse. Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sind allerdings keine Inseln . Sie sind nicht abgekoppelt von einer komplexen lokalen und gesamtgesellschaftlichen Umwelt, sondern vielfach mit dieser verbunden und von ihr beeinflusst. Das gilt erst recht für das Leben der Kinder und Jugendlichen in der räumlich-sozialen, wirtschaftlichen und politischen Welt ihres Stadtteils oder Dorfes. Durch ihr Handeln entsteht schon ein Netzwerk, das die verschiedenen Orte, Handlungsweisen, Interessen, aber auch Probleme und Konflikte in eine Verbindung bringt. So entstehen in der Schule eine ganze Reihe von Themen und Problemen, die für die Kinder und Jugendlichen gar nicht auf diesen Ort beschränkt sind.
Das Problem, dass viele Schüler und Schülerinnen das Essen in der Ganztagsschule nicht nur stressig, sondern auch wenig wohlschmeckend finden, führt dazu, dass sie versuchen, andere Orte für Erholung und Essen zu finden. Sie versuchen, das Schulgelände zu verlassen, Kioske oder Dönerbuden aufzusuchen oder in der Nachbarschaft beziehungsweise in angrenzenden Grünzonen zu chillen. An solchen außerschulischen Orten stoßen sie aber wieder auf andere dort handelnde Menschen und deren Interessen. Es entstehen neue Chancen, etwa der Bildung, der Schließung von Freundschaften und Bekanntschaften, der Freizeitgestaltung, des Umgangs mit Nahrungsmitteln usw. Selten aber können die pädagogischen Einrichtungen wie Schule oder Jugendhäuser solche Verschränkungen von Räumen und Handlungsmustern jenseits der Grenzen der eigenen Einrichtungen erkennen oder gar handelnd einbeziehen. Die Kinder und Jugendlichen sind also immer schon Akteur*innen jenseits der Grenzen der Einrichtungen und handeln im Rahmen der räumlich-sozialen Verhältnisse der Kommune.
Dort sind sie als Einzelpersonen oder als Cliquen häufig den Machtsphären anderer Personen, Gruppierungen oder Institutionen ausgesetzt. Forschungen zum sozialräumlichen Handeln von Kindern und Jugendlichen zeigen, dass diese in den lokalen Machthierarchien oft an letzter Stelle stehen und wenig Einflussmöglichkeiten haben (zum Beispiel Reutlinger 2003; Scherr 2004; Sturzenhecker 2015a). Obwohl die Kinder und Jugendlichen Mitbürger*innen sind, wird ihnen doch nicht gleiches Recht eingeräumt, die öffentlichen Räume zu nutzen. Stattdessen kommt es häufig zu Kontrollen, Vertreibungen und Verbringung in pädagogische Einrichtungen. Mögen diese dann durchaus selbst wieder demokratisiert sein, bleibt diese Chance der jungen Menschen auf Partizipation jedoch schwach, wenn die pädagogischen Einrichtungen selbst nicht auf den Mangel an demokratischer Beteiligung ihrer Adressat*innen in der Umwelt eingehen. Der Blick der Einrichtungen muss sich also immer gleichzeitig auf ihre Binnenverhältnisse und deren Demokratisierung sowie auf die Außenverhältnisse richten, also auf die Unterstützung der Kinder und Jugendlichen auch in ihren sonstigen Lebensverhältnissen, um in den sozialen Räumen der Kommune als mitentscheidungsberechtigte Bürger*innen anerkannt zu werden.
Daher fordern landesweite Kampagnen wie „Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft“ ( jugendgerecht.de), demokratische Beteiligung und ein Mehr an Gerechtigkeit für Kinder und Jugendliche, besonders auf Ebene der Kommunen, durchzusetzen. Gefordert werden kinder- und jugendgerechte Kommunen und Regionen, „weil sie räumlich und politisch den jugendlichen Lebenswelten am nächsten sind. Hier sind die jungen Menschen unmittelbar betroffen, hier sind sie direkt ansprechbar“ ( jugendgerecht.de). Handlungsmodelle einer kommunalen jugendgerechten demokratischen Beteiligung haben auch das Potenzial, die gesellschaftliche Inklusion von Kindern und Jugendlichen zu stärken. Diese werden – folgt man demokratischen Prinzipien – nicht als benachteiligte, defizitäre, problematische oder riskante Gruppierungen betrachtet und behandelt, sondern sind gleichberechtigte Mitbürger*innen, die, anerkannt als Mitglieder der kommunalen Demokratie, diese mitgestalten.
Insgesamt ist damit auch ein Argument verbunden, das Demokratie auf kommunaler Ebene besondere Chancen der konkreten Mitwirkung der Bürger*innen an lokalen Entscheidungen und kommunalen Handlungsweisen böte. Es sind heute viele konzeptionelle Ideen zu finden, die die Rettung der Demokratie in der Kommune verorten (zum Beispiel Barber 2013; Hüther 2013; Richter 2016). Angesichts von Globalisierung und postdemokratischen Phänomenen wird damit doch gerade einer kommunalen Zivilgesellschaft und Demokratie noch die Möglichkeit zugetraut, Erfahrungen konkreter Beteiligung an öffentlich-diskursiver Konfliktbearbeitung und gemeinsamer Entscheidung zu ermöglichen. Auch und gerade Kinder und Jugendliche sollen solche kommunalen Erfahrungen der Demokratiebildung machen können.
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