Sie zuckte zusammen. Haron war selbst überrascht von der Ruhe, mit der er diese Worte ausgesprochen hatte. Es war keine leere Drohung, das wussten sie beide.
»Ich habe nur getan, was du ihnen versprochen hattest«, protestierte Ariat, doch in ihrer Stimme lag Unsicherheit. Sie schlug die Augen nieder.
»Hältst du mich wirklich für so dumm?« Haron schnaubte. »Die anderen kannst du belügen, aber mich nicht! Also versuch es gar nicht erst.« Er trat an sie heran, so nah, dass sie zu ihm aufsehen musste. »Du hörst mir jetzt gut zu«, sagte er. »Folgendes ist geschehen: Ich war mit Hemmon im Kloster, um weitere Vorräte zu sichern. Diesen Teil wird er dir gerne bestätigen. Und als die Priester uns die Unterstützung verweigert haben, hast du wie vereinbart die Vernichtung des Klosters ausgeführt.«
Ihre Augen weiteten sich.
»Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«, fuhr er fort. »Hast du das verstanden?«
Ariat zog eine Grimasse. »Ich soll also so tun, als hätte ich auf deinen Befehl gehandelt, du großer Anführer.«
»So sieht es aus. Entweder bist du für die anderen die Stellvertreterin, der ich blind vertraue und wichtige Aufgaben delegiere, oder ich werde eine andere Lösung finden.«
Wut trat in ihren Blick, aber sie konnte nicht die Furcht darin auslöschen. Hektische rote Flecken zeichneten sich unter ihren Narben ab. »Du kannst mich nicht einfach umbringen!«, stieß sie hervor.
»Ich kann«, erwiderte er kalt. »Und ich werde, wenn du die Gemeinschaft gefährdest.«
»Ich habe nichts Falsches getan!« Ihre Stimme kippte. »Du hast dein Versprechen gebrochen …«
»Irrtum!« Er musste sich beherrschen, um nicht die Stimme zu heben. Dieses Gespräch sollten nur sie beide hören, und auch wenn er die größte Lauscherin gerade in die Mangel nahm, war sie durchaus nicht die Einzige in der Unterstadt, die glaubte, das Recht zu haben, alles zu wissen. »Ich war an der Oberfläche, um einen Anschlag vorzubereiten. Einen, der unseren Krieg weitergebracht hätte, nicht so wie dein persönlicher Rachefeldzug gegen die Priester.«
Wieder verzog sie verächtlich das Gesicht. Er stieß sie gegen die Wand, sodass ihr Kopf hörbar gegen den Felsen schlug. Nun war es Schmerz, der ihre Lippen kräuselte.
»Wie viel Sprengstoff hat uns dein kleiner Egotrip gekostet? Wie viel von den Ressourcen, die wir für einen richtigen Anschlag hätten gebrauchen können?«
Zum ersten Mal schien sie zu begreifen, was sie angerichtet hatte. Statt sich zu verteidigen, ließ sie die Hand sinken, mit der sie ihren Hinterkopf betastet hatte.
»Dein Eigennutz hat uns Zeit gekostet, die wir vielleicht nicht mehr haben«, fasste Haron zusammen. »Wir müssen diesen Krieg beenden. Ich will ihn gewinnen. Und wenn du mich dabei nicht unterstützen willst, dann muss ich daraus meine Konsequenzen ziehen. Hast du mich verstanden?«
Der alte Trotz trat in ihre Augen, aber sie wusste, dass es klüger war, klein beizugeben. »Ja.«
»Gut.« Mit routiniertem Griff löste er den Verschluss seiner Hose.
Ihre Augen weiteten sich, als ihr klar wurde, was er vorhatte. Sie protestierte, wollte ihn wegdrücken, doch er packte sie und stieß sie grob aufs Bett. Er war stärker als sie, das hatten sie oft genug erprobt. Nur dass es diesmal kein Spiel war.
Den anderen gegenüber konnte er nicht zeigen, dass Ariat ohne seine Zustimmung gehandelt hatte. Aber das bedeutete nicht, dass er ihren Ungehorsam einfach dulden würde.
Helbar
Die Zahl der Gläubigen, die an diesem Abend in seiner Gebetsstätte zusammengefunden hatte, überraschte Helbar. Er war ein erfahrener Priester. Er leitete sein Gebetshaus seit Jahrzehnten, doch so ein Andrang war ihm bisher noch nie untergekommen. Angst zeichnete sich auf ihren Gesichtern ab, eine Furcht, die er nicht teilte. Mit dem Kloster hatte er längst gebrochen, und den Berichten nach zu urteilen, die er zuletzt vernommen hatte, war es für den Glauben das Beste, das Übel an seinem Ursprungsort auszubrennen. Viel hatte Lorio ohnehin nicht von der einst stolzen Einrichtung übriggelassen.
Doch Helbar verstand, weshalb seine Anhänger das nicht so sehen konnten. Beschwichtigend breitete er die Arme aus. Er wartete, bis das vielstimmige Gemurmel im Saal verstummte, und hob die Stimme. »Danke, dass ihr gekommen seid. In Zeiten der Unruhe ist es umso wichtiger, inneren Frieden zu finden …«
»Was geschieht jetzt?«, unterbrach ihn ein junger Mann. Seine Wange zierte eine halb verheilte Brandwunde, doch er trug immer noch den Overall seines Arbeitgebers. Ein fleißiger Arbeiter.
Dennoch war das kein Verhalten, das Helbar in seiner Gebetsstätte dulden wollte. Er zog missbilligend die Augenbrauen zusammen. Hier sprach er, niemand sonst.
Bevor er den vorlauten Sprecher jedoch entsprechend zurechtweisen konnte, hatte sich eine ausgezehrte Frau erhoben und rief: »Genau! Wie geht es jetzt weiter?«
Auch andere Stimmen wurden laut. »Werden die Gebetshäuser geschlossen?«
»Was ist mit den Spenden? Werden sie weitergeführt?«
»Wohin können wir uns wenden?«
Helbar hatte genug. »Ruhe!«, brüllte er so laut, dass es von der niedrigen Decke hallte. Er zwang ein Lächeln auf sein Gesicht. »Es bleibt alles wie gehabt. Die Tore der Gebetsstätten bleiben geöffnet, und meine Brüder und ich haben immer ein offenes Ohr für eure Sorgen. Und solange wir Spenden erhalten, werden wir sie weitergeben. Nach demselben Prinzip wie bisher: Wer Hilfe benötigt, wird sie empfangen. Doch wer mit den Reinen paktiert und Leben nimmt, benötigt keine Hilfe von uns.«
Zustimmendes Gemurmel war die Folge. Er würde die Puristen aushungern. Dieses Pack, das keine Scheu kannte, sich an den Spenden der Arbeiter zu bereichern, während sie mordend und plündernd durch die Straßen zogen und auch noch diejenigen attackierten, denen sie das wenige Brot vom Teller stahlen.
»Also bleibt ruhig«, schloss er seine Beschwichtigung. »Und haltet euch von den Aufständen fern, dann wird euch nichts geschehen.«
Einige verzogen die Gesichter. Vor den Gefahren ihres Alltags konnte sie diese Vorsicht nicht schützen. Der mussten sie sich selbst stellen. Helbar wusste nur zu gut, dass die Bedingungen in den Fabriken schlimmer waren denn je, aber diese Sorge konnte er ihnen nicht abnehmen.
»Ich weiß.« Er hob die Hände. »Es gibt keine Sicherheit, solange diese Parasiten unter uns weilen.«
Die Unruhe kehrte zurück, und er atmete hörbar durch, als würden ihm die folgenden Worte widerstreben. Als hätte er sie nicht schon tausendfach in seinen Gedanken geformt. Doch diesmal sprach er sie aus.
»Ich kann euch nicht dazu raten, Gewalt zu verüben. Aber ich betone auf das Äußerste, dass euch niemand dafür verurteilen kann, wenn ihr euch zur Wehr setzt, um euch und die Euren zu schützen.«
Sie sahen ihn schockiert an. Zu lange hatte er die Maske der Freundlichkeit und des Verständnisses getragen. Es wurde Zeit, dass er ein Zeichen setzte. Zeit, dass jemand die Wahrheit aussprach.
»Elend hat es in Noryak immer gegeben, das wisst ihr ebenso gut wie ich«, fuhr er fort. »Eskaliert ist es erst, seit die Puristen ihr Unwesen trieben.«
Die Ersten nickten zaghaft.
»Nicht die Oberschicht ist das Problem«, erklärte Helbar, bebend vor gerechtem Zorn. »Wir hier unten sind es gewohnt, unsere Dinge selbst zu regeln. Auf einander zu achten. Doch die Puristen wenden sich gegen uns. Sie stehlen das Wenige, das wir besitzen, zerstören das, was uns am Leben erhält!«
»Unmenschen«, zischte jemand, laut in der betretenen Stille des Gebetshauses.
Diesmal begrüßte Helbar den Einwurf. Er nickte bekräftigend. »So ist es! Sie sind Verräter am eigenen Volk!«
Sie auszuhungern war nicht genug. Wenn sie dem Spuk ein Ende machen wollten, mussten sie die Reinen auslöschen, sie an die Exekutive ausliefern und …
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