»Wenn der Aufstand kein Ende nimmt, sind wir alle davon betroffen«, erinnerte Ramin ihn. »Was, wenn die Puristen als nächstes Ziel den Regierungssitz auswählen?«
Der Präsident zuckte kaum merklich zusammen. Sein eigenes Wohl lag ihm offenbar doch am Herzen. »Meinetwegen«, sagte er. »Aber die Regierung darf damit nichts zu tun haben. Du selbst wirst das Nötige in die Wege leiten.«
Das überraschte Ramin. Bisher war er nur Berater gewesen, hatte über keinerlei offizielle Aufgaben oder Weisungsrechte verfügt. »Ich, Präsident?«
Ein künstliches Lächeln erschien auf Sepions Lippen. »Du lässt dich doch als Minister der Geheimnisse titulieren. Damit fallen Spione unter deinen Aufgabenbereich. Kümmere dich darum, und liefere Ergebnisse. Rascher als Jorek, wenn ich bitten darf.« Er warf einen Blick in die Spiegelfläche an der Fensterfront, zupfte sein strähniges Haar zurecht und wedelte ungeduldig mit der Hand in Richtung seines Beraters. »Und jetzt geh. Ich habe noch Wichtigeres zu tun, als mir deine Weisheiten anzuhören.«
Ramin nickte ergeben. »Ich bitte dich nur, die bisherigen Versuche nicht aufzugeben. Wir müssen die Fabriken am Laufen halten …«
»Und das neue N4-Center errichten«, unterbrach Sepion ihn. »Das weiß ich selbst. Geh jetzt.«
Irritiert trat Ramin einen Schritt zurück. »Jawohl, Präsident«, stieß er hervor, doch Sepion beachtete ihn überhaupt nicht mehr.
Nun, er hatte danach gestrebt, den Präsidenten zu einem selbstdenkenden Mann zu erziehen, der nicht nach den Wünschen seiner Minister tanzte. Das war ihm offenbar gelungen. Jetzt musste er wohl oder übel einsehen, dass er damit auch sich selbst den Einfluss genommen hatte.
Doch das machte nichts. Sepion hatte ihn mit einer neuen Aufgabe betraut. Statt zu manipulieren, würde er einen Teil von Noryaks Zukunft von nun an selbst bestimmen können.
Am Untergang des Klosters konnte er nichts mehr ändern, aber wenigstens gab es noch die Gebetsstätten. Wenn es ihm gelang, diesen Krieg zu beenden, konnte er die Priesterschaft selbst wiederaufbauen. Er könnte ein neues Kloster erschaffen, das die Werte des Glaubens auch tatsächlich hochhielt. Mit Priestern, denen ihre Schützlinge mehr am Herzen lagen als der eigene Rang.
Es gab da auch jemanden, der ihm in den Sinn kam. Der junge Schüler, der Ramin seine Anstellung im Kloster gekostet hatte, weil er den Intrigen der jungen Priester nichts entgegenzusetzen gehabt hatte. Empathisch, gelehrig, pflichtbewusst. Ja, der Junge wäre der Richtige, um die Priesterschaft wieder zu dem zu machen, was sie sein sollte. Die Stütze der Gesellschaft. Ramin würde das Kloster aus seiner Asche heben, mit Atlan als neuem Abt.
Ranya
Zuerst waren es nur Gerüchte, die Ranya erreichten. Von einem neuen Gewaltakt der Reinen. Einem, den niemand einordnen konnte. Ein Ziel, das niemand verstand. Also war sie den Berichten gefolgt, hatte den Unterschlupf verlassen, den sie für ihre Gruppe gefunden hatte, und sich auf die Suche nach der nächsten Nachrichtenquelle begeben.
Sie musste nicht lange suchen. Die Monitore der Hochhäuser übertrugen inzwischen rund um die Uhr die neuesten Schreckensmeldungen, und heute zeigten sie alle dasselbe: ein Feuer, das aus zerborstenen Fenstern schlug, ein heruntergekommenes Gebäude irgendwo in Noryak, verhüllte Gestalten, die ohne jede Hast den Ort des Anschlags verließen. Doch es war nicht irgendein Haus, kein beliebiger Laden, der den Puristen zum Opfer gefallen war. Ranya erkannte die Fassade, das große Tor. Ihr Herz krampfte sich erschrocken zusammen. Das Kloster!
Wieso? Was hatte Haron davon, den Hort der Priesterschaft niederzubrennen? Die Priester waren nicht ihre Feinde. Einstmals hatte Ranya sogar gedacht, dieser Ort wäre der sicherste in ganz Noryak. Damals, als sie ihren Sohn in die Obhut der Schwarzgewandeten gegeben hatte. Es schien eine Ewigkeit her zu sein.
Atlan. Bei der Erinnerung an den Jungen traten ihr Tränen in die Augen, bahnten sich einen Weg über ihre vernarbten Wangen hinab. Er war in Sicherheit. Es gab keinen Grund für ihn, sich im Kloster aufzuhalten. Doch wenn das Kloster brannte, war Atlan für sie endgültig verloren. Seit die Anschläge begonnen hatten, verweigerte er ihr jede Möglichkeit des Kontakts. Und wenn er diese Bilder sah, würde er sie erst recht verdammen. Für etwas, das sie nicht getan hatte, das sie niemals unterstützt hätte.
Was sie auch tat, wie sehr sie es auch versuchte, sie entkam dem Schatten der Gewalt nicht, den die Puristen verbreiteten. Ranya ballte die Hand zur Faust, aber in dieser Geste lag mehr Verzweiflung als Wut. Warum hatten die Reinen ausgerechnet dieses Ziel gewählt? Dort gab es nichts, das es sich zu stehlen lohnte! Was bezweckten sie mit diesem Anschlag?
Frustriert wandte Ranya sich von den Bildschirmen ab, schlüpfte zwischen Müllbergen und zerbröckeltem Mauerwerk hindurch und trat den Weg zurück in ihren Unterschlupf an. Xenos hätte niemals zugelassen, dass die Reinen sich an Unschuldigen vergingen, ganz gleich, was sie von dem neuen Abt hielten. Das war Wahnsinn! Es würde die Arbeiter und Priester bloß weiter gegen die Reinen aufbringen, und damit würde es auch für sie und ihre Gruppe schwerer werden, zu überleben.
Ein resignierter Seufzer entrang sich Ranyas Brust. Vielleicht hatte sie im Innersten trotz allem gehofft, dass Haron etwas bewirken konnte. Dass die Oberschicht erkennen würde, wie sehr die Menschheit ihretwegen litt. Aber der Weg, den er dabei beschritt, würde sie alle ins Verderben führen. Und dieses Morden war es, die sinnlose, eskalierende Gewalt, die sie nicht länger mit ansehen wollte. Der Grund, weshalb sie aus der Unterstadt geflohen war.
Ranya legte eine Hand an die improvisierte Tür zu ihrem Unterschlupf und sah all die Narben und Schwielen, die ihre Finger bedeckten; die schlaffe, fleckige Haut. Sie war alt, wie die meisten Puristen, die sich ihr angeschlossen hatten. Was sollten sie schon ausrichten? Wem sollten sie noch nützen? Sie bezweifelte, dass Haron überhaupt bemerkt hatte, dass sie gegangen waren. Sein Sog war so viel stärker, als sie angenommen hatte. Es waren so wenige, die seinen Weg ablehnten, und so viele, die sich ihm anschlossen. Die Jungen gierten nach Blut, nach Veränderung. Was übrig blieb, waren die Alten und Kinder.
Aus dem Unterschlupf klang das Lachen eines Mädchens, und unwillkürlich musste Ranya lächeln.
Ihnen nützten sie. Den Kindern, die niemanden mehr hatten, die von der Straße gekommen oder deren Eltern im Aufstand gefallen waren. Für sie musste sie stark sein, für sie musste sie überleben.
Ranya drückte die Tür auf und kehrte in ihr neues Zuhause zurück. Die Zuflucht war ärmlich eingerichtet, kaum mehr als ein paar schmutzige Matratzen, die sie um einen niedrigen Tisch herum angeordnet hatten. Es war beengt, und es stank. Aber wenn es den Kindern ermöglichte, ohne Hass aufzuwachsen, ohne den Wunsch, sich Narben zuzufügen … Wenn diese Kinder lachen konnten, dann hatte sich die Entbehrung gelohnt.
Sie nickte den Frauen zu, die diese wilde Bande von Kleinkindern beaufsichtigten, die über das Matratzenlager stürmte. Saske, die Älteste der Gruppe, kam umständlich auf die Beine.
»Ist es wahr?«, fragte sie. Ihr Blick zuckte zu den Kindern, doch die waren zu sehr mit ihrem Spiel beschäftigt, um etwas von dem Gespräch mitzubekommen. Dennoch senkte Saske die Stimme noch weiter. »Ein Anschlag auf die Unterschicht?«
»Es ist das Kloster«, antwortete Ranya ebenso leise. Sie war erstaunt, wie ruhig sie dabei klang.
Saske presste eine zitternde Hand an den Mund. »Sie werden uns hassen«, wisperte sie.
»Sie haben allen Grund dazu.« Die Gebetsstätten verweigerten den Reinen bereits jede Spende, und nun, da das Kloster gefallen war, würden sie Puristen erst recht nicht in ihren Gemeinden dulden. Von den Priestern konnte Ranya kein Verständnis erhoffen. Nicht einmal von ihrem eigenen Sohn.
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