»Miss Crumb«, begann Oscar zu einer Erklärung anzusetzen, doch ich schnitt ihm das Wort ab.
»Ich kümmere mich darum«, gab ich mit fester Stimme zurück. »Danke, Oscar. Sie können jetzt gehen.« Mein Gesicht regte sich keinen Millimeter aus seiner erhabenen Starre.
Oscar sah mich mit großen Augen an, während ihm die Röte ins Gesicht schoss, nickte schließlich und nahm Reißaus.
Ich wartete ab, bis seine Schritte weit genug weg waren, und ließ das Lächeln auf meine Lippen gleiten, das dort schon die ganze Zeit über lauerte.
»Was machst du denn hier?«, wollte ich wissen und Elisa atmete erleichtert auf.
»Verdammt, hast du mir einen Schreck eingejagt«, flüsterte sie und wedelte sich mit einem dunkelroten Handschuh Luft zu. »Dasselbe könnte ich dich fragen. Warum in Teufels Namen hört dieser engstirnige Laufbursche auf dich?«
»Ich arbeite hier«, gestand ich und reichte ihr das Buch zurück. Es war ein Manifest über die Bürgerrechte der Rassen in Amerika. »Ich bin die neue Bibliothekarsassistentin.«
Es schien beinahe, als müssten Elisa jeden Moment die Augen aus dem Kopf fallen, so schockiert starrte sie mich an.
»Ach du meine Güte«, entfuhr es ihr und ich beschloss, dass es für uns wahrscheinlich besser wäre, uns an einem Ort zu unterhalten, an dem uns nicht jeder sehen konnte.
»Komm mit«, bedeutete ich ihr, ging ans Ende des Regals und sah den Gang nach unten. Es war niemand auf dem langen Flur und die Studenten im Lesesaal, die uns möglicherweise hätten sehen können, waren vertieft in ihre Lektüren.
Wir überquerten den Flur und ich öffnete Elisa die Tür zu der Kammer, in der es immer noch viel zu viel zu tun gab.
»Das ist doch unvorstellbar!«, platzte es aus Elisa heraus, sobald ich die Tür hinter uns geschlossen hatte. Amüsiert schüttelte ich den Kopf über ihr überschwängliches Gemüt. »Wenn ich das mal gewusst hätte! Unvorstellbar!«, wiederholte sie sich und begann, hin und her zu laufen.
»Du hast nicht gefragt«, erwiderte ich nüchtern und sie hielt kurz inne, legte das Buch ab und schritt dann weiter.
»Du hast absolut recht. Ich dachte, es wäre nicht so wichtig, und nun stellt sich heraus, dass du an der Quelle sitzt. Es war arrogant von mir, nicht nachzufragen. Ich hätte mir erspart, mir die Strümpfe an den Rosenbüschen kaputtzureißen, als ich zum Fenster eingestiegen bin«, faselte sie und ich bedachte sie mit einem zweifelnden Blick. Sie hatte einen Hang zur Übertreibung und sicher auch einen zur Theatralik.
»Elisa, wieso steigst du in eine Bibliothek ein?«, stoppte ich ihren unsinnigen Redefluss und sie sah mich erstaunt an.
»Weil ich die Bücher brauche!«, sagte sie, als sei es selbstverständlich. »Unsere Bibliothek ist ein Witz gegen diese hier. Wir haben Hunderte Bücher über Haushaltsführung und Kunst. Aber Rechtswesen, Politik, Philosophie sind immer verliehen, weil es so wenige sind, oder sie fehlen gänzlich«, beschwerte Elisa sich und ich setzte mich auf einen Stuhl. Ich zog noch einen heran, den ich schräg neben mir postierte in der Hoffnung, Elisa würde ihren Lauf aufgeben und sich zu mir setzen.
Doch sie schien zu aufgebracht zu sein, um dieser stillen Aufforderung nachkommen zu wollen. »Sie werfen uns das Wissen häppchenweise hin, als ob wir zu dumm wären, mehr zu begreifen. Ich könnte mir die Haare raufen, aber dann würde meine Gönnerin mich wieder rügen, dass ich rumliefe wie eine Hübschlerin.«
Es war nicht zum Lachen und trotzdem konnte ich es mir nicht verkneifen. Diese originelle Art, mit der sie Wichtiges und Unwichtiges in einem Satz vereinte, war es, die sie in diesem Moment so witzig machte.
»Ach, lach doch nicht, Animant«, warf sie mir vor und hatte selbst schon das Lachen halb in der Stimme.
»Es tut mir leid«, versuchte ich mich zu entschuldigen und riss mich etwas zusammen. »Du bist also hier eingebrochen, um ein Buch zu lesen«, hielt ich fest und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Ich war verrückt nach Büchern und trotzdem wäre mir nicht im Traum eingefallen, dafür durch das Fenster eines Gebäudes zu steigen, in das mir der Einlass verwehrt wurde.
Endlich ließ Elisa sich auf den Stuhl fallen, den ich ihr zurechtgeschoben hatte, und seufzte laut. Das Hin-und-her-Gelaufe hatte mich auch sehr irritiert.
»Ja, das bin ich«, gestand sie und sah sehnsüchtig zu dem Wälzer, der auf der Tischkante lag. »Ich wollte ein paar kleine Absätze lesen, obwohl ich eigentlich das ganze Buch brauchen könnte. Und dann hat mich dieser Kerl dabei erwischt«, schimpfte sie und obwohl sie sich gefasst gab, konnte ich sehen, wie verzweifelt sie hinter der ruhigen Fassade war. Es musste auch wirklich frustrierend sein, nicht das lesen zu können, was man wollte oder brauchte.
Und in mir entstand der Wunsch, ihr zu helfen. Es war so ungerecht, dass man ihr den Zutritt verwehrte, dass ich es einfach nicht zulassen konnte.
»Ich verleih es dir«, sagte ich und Elisas Blick schoss in meine Richtung.
»Das darfst du nicht«, erwiderte sie harsch und doch mit Hoffnung in den Augen.
»Na und. Wer soll es schon erfahren? Ich gebe es dir für eine Woche und dann gibst du es mir zurück«, schlug ich vor und Elisa blieb nicht lange bei ihrer Widerrede.
»Und was, wenn sie merken, dass es fehlt?«, fragte sie und ich zuckte mit den Schultern. Nichts leichter als das.
»Ich schreib es als entliehen auf eine Karte, dann wird es niemand suchen«, erklärte ich ihr, doch sie schien noch nicht ganz überzeugt.
»Und unter welchem Namen willst du es verbuchen?«, wollte sie wissen und streckte sich bereits nach dem Buch aus, um es wieder an sich zu nehmen.
»Du kannst dir ja einen ausdenken«, schlug ich vor und fragte mich, ob meine Tollkühnheit, die mir in diesem Moment ein Hochgefühl bescherte, mich nicht zu Fall bringen würde.
Das Neunte oder das, in dem die Willkür Bücher zerstörte.
Edward Teach hatten wir auf Elisas Verleihkarte geschrieben und ich fühlte mich noch den ganzen Tag kribbelig und durchtrieben wie ein Pirat.
Ich konnte mich nicht erinnern, jemals etwas so Verbotenes getan zu haben wie das hier, und mein Herz schlug mir bis zum Hals, wenn ich Mr Reed über den Weg lief, in der Angst, er könnte mir meinen Frevel im Gesicht ansehen.
Doch wie sehr ich auch darüber nachdachte, aus welcher Perspektive ich es betrachtete, ich bereute meine Tat nicht und ich wusste, dass ich es wieder tun würde. Es war einfach ungerecht, einer Frau die Bildung zu verwehren, die ein Mann auch bekam. Ganz gleich, was die Gesellschaft auch vorschreiben mochte, die doch wieder nur von der Meinung der Männer geprägt war.
Ich räumte meine restlichen Bücher in die Regale, brachte Mr Reed seine Post an die Bürotür und kümmerte mich um allgemeine Ordnung. Zu Mittag aß ich mit Elisa, die mich an der Cafeteria abpasste und mir ein Stück Kuchen spendierte. Sie war überschwänglich und unendlich glücklich, und ich konnte sie gerade noch davon abhalten, mir die ganze Schokoladentorte zu kaufen.
Als wir die Cafeteria verließen, hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt und wir verabschiedeten uns schnell, da keine von uns beiden einen Schirm bei sich trug.
Ich fühlte mich gut in Elisas Gegenwart und hoffte, ich würde sie noch öfter treffen.
Es war selten für mich, dass ich mich mit jemandem anfreundete. Aber die Menschen in London waren einfach anders als die zu Hause.
Als Big Ben um fünf läutete, legte ich meine Arbeit nieder und verabschiedete mich bei Mr Reed und Oscar, wobei Letzterer mir mit missmutigem Blick hinterhersah. Offensichtlich machte es ihm zu schaffen, dass ich es mir herausgenommen hatte, über seine Tätigkeit zu bestimmen und er vor mir gekuscht hatte. Diese Tatsache störte mich jedoch nicht allzu sehr.
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