»Wenn Mr Reed wieder zurück ist? Wo ist er denn hin?«, fragte ich nach und Mr Lennox zuckte nur mit den Schultern.
»Was weiß ich. Ich weiß nur, dass er jeden Mittwoch gegen Mittag spurlos verschwindet«, behauptete er.
Ich sah ihm hinterher, wie er die Stufen nach unten lief, Cody grüßte und dann durch den Haupteingang verschwand.
Mich ließ die Aussage nicht los, Mr Reed würde einfach verschwinden, und ich ging die paar Schritte bis zu seinem Büro, um dort unauffällig an der Tür zu lauschen. Schon der erste Eindruck war, dass sich niemand darin befand und nach einigen Sekunden wurde es mir bestätigt. Ich hatte genug Erfahrung im Lauschen, dass ich sehr schnell wusste, ob ein Raum verlassen war oder nicht.
Also ging ich den Rundgang entlang, sortierte ein paar Bücher, die mir gerade ins Auge sprangen, und hielt Ausschau. Er war weder im Lesesaal noch im Foyer. Ich stieg die Treppen nach unten und sah kurz in den Seitenflügeln nach. Doch Mr Reed blieb verschwunden.
Der einzige Ort, an dem ich nicht nachsah, war das Archiv. Falls er dort war, befand sich das außerhalb meines Interessenbereiches, denn ich würde nicht nach ihm suchen gehen.
Schlendernd ging ich zurück in meine Kammer, nietete Metallplättchen auf Buchrücken, bis mir vor Anstrengung die Arme zitterten, und ging dann zurück ins Foyer, um die Rückgaben zu sortieren.
Ein Blick auf die Uhr erinnerte mich daran, dass ich vergessen hatte, meine Mittagspause zu machen und ich ärgerte mich ein wenig über mich selbst.
»Cody, darf ich Ihnen eine Frage stellen?«, sprach ich den Jungen an, der gerade zurückkam, um den nächsten Schwung Bücher bei mir abzuholen.
Er sah verstohlen auf seine Hände und nickte zaghaft. Ich war mir nicht sicher, ob er mir antworten würde, schließlich hatte er bisher in meiner Gegenwart keinen Ton rausgebracht.
Da ich ihn nicht in eine für ihn unangenehme Lage bringen wollte, entschied ich mich, meine Fragen so zu formulieren, dass er sie mit einer Kopfbewegung beantworten konnte.
»Verschwindet Mr Reed jeden Mittwochmittag?«, erkundigte ich mich und Cody nickte. Schon mal ein kleiner Erfolg für meine Taktik.
»Kommt er denn wieder?«, fragte ich weiter und Cody schüttelte den Kopf.
Das war wirklich äußerst seltsam. Mr Reed ging zu Mittag und nahm sich den Nachmittag einfach frei? Das war schon wieder etwas, das zu seinem Wesen überhaupt nicht zu passen schien. Ich schätzte ihn als einen Mann ein, der eher länger blieb, als früher zu gehen, und er hatte mir bereits selbst gesagt, dass er seine Arbeit sehr ernst nahm.
Was gab es also, das wichtiger war als seine geliebte Bibliothek?
»Wissen Sie denn, wo er hingeht?«, erkundigte ich mich und Cody schüttelte wieder den Kopf, während er Bücher von dem Ständer vor mir auf einen Bücherwagen umlud.
Einerseits irritierte es mich, dass ich nun allein und ohne Aufsicht von Mr Reed in diesen Räumen war, andererseits ließ es mich in einer gewissen Weise aufatmen. Sein unsichtbarer Blick, der immer schwer auf mir gelastet hatte, war verschwunden und ich fühlte mich weit weniger beobachtet, auch wenn mir die skeptischen Blicke der Studenten immer noch überallhin folgten.
Eine arbeitende Frau war keinem von ihnen geheuer und oft flüsterten sie über mich. Doch solche Anfeindungen war ich gewöhnt. Zu Hause in unserem Städtchen sahen mich die meisten so an, Männer wie Frauen, und sie tuschelten über das seltsame Mädchen, das sich immer hinter seinen Büchern versteckte.
Sollten sie doch reden. Was wussten sie schon?
Ich ging und holte mir einen Tee und ein Stück Plundergebäck in der Cafeteria. Da Mr Reed ja nicht da war, hatte ich auch kein schlechtes Gewissen, einfach außerhalb meiner Pausenzeiten zu verschwinden, schließlich hatte ich meine Mittagspause heute ausgelassen.
Während ich meine Tasse über den Hof und den unebenen Weg bis zur Bibliothek balancierte und stark darauf achten musste, mir dabei nicht den Handrücken zu verbrennen, dachte ich darüber nach, wie ich es anstellen könnte, mir meinen Tee künftig in der Bibliothek zuzubereiten, denn die gegenwärtige Methode war doch reichlich unzweckmäßig.
Als ich in dem Zimmerchen angekommen war, durch das man in das Innenleben der Maschine gelangte, setzte ich mich dort an den Tisch und packte mein Plundergebäck aus. Es war nicht im Geringsten gemütlich hier drinnen und ich nahm mir vor, die ganze hintere Wand von dem Gerümpel zu befreien, sobald ich Zeit dafür fand.
Meine Gedanken sprangen weiter und wieder zurück zu dem Bibliothekar. Was tat er gerade wohl?, stellte sich mir die Frage und ich sinnierte darüber, während ich einen Schluck Tee trank. Jetzt war er kalt.
Der Donnerstag begann wie der Tag davor. Ich war wieder ein paar Minuten vor Mr Reed an der Bibliothek und sein morgendlicher Gruß fiel erneut ein wenig freundlicher aus als am Tag zuvor. Ich sortierte die Zeitung, bezahlte Phillip Tams, brachte den Gang ins Archiv mit dem gleichen Schreck in den Gliedern hinter mich und verschwand dann in meiner Kammer, um die Karteikarten für die Maschine zu bedrucken.
Ich hatte gerade mal die Hälfte der neuen Bücher aus den Kisten geholt, in den Katalog aufgenommen, beschriftet, genietet und die Schlagwörter überflogen, aber es fühlte sich trotzdem nach unglaublich viel an, was ich in den vergangenen drei Tagen geschafft hatte. Zwar konnte ich mir nicht vorstellen, dass Mr Reed jemals stolz auf mich sein würde, aber ich war es und ich würde mir das sicher nicht nehmen lassen.
Höchstpersönlich lud ich die neuen Bücher auf einen Wagen und brachte sie an die Stellen, an denen sie in Zukunft stehen würden.
»Entschuldigen Sie, Miss, Sie haben hier nichts verloren«, hörte ich plötzlich ein paar Regalreihen vor mir Oscars Stimme, die ein wenig zu laut klang für die Stille, die in der Bibliothek vorherrschte.
»Ich muss nur ganz schnell was nachschlagen«, antwortete ihm eine weibliche Stimme, deren kratziger Nachhall mir sofort bekannt vorkam.
»Nein, Miss. Diese Bibliothek ist ausschließlich den Studenten der Royal University und ihren Gönnern vorbehalten. Sie …«, redete Oscar auf sie ein und wurde unterbrochen.
»Die alle männlich sind! Schon verstanden. Aber ich pfeif drauf!«, warf die Frau ihm an den Kopf und nun war ich mir sicher.
Es war Elisa Hemmilton.
Ich legte das Buch, das ich gerade einsortieren wollte, wieder zurück auf den Wagen und ging mit schnellen Schritten in ihre Richtung.
»Miss, geben Sie das Buch her!«, fauchte Oscar recht ungehalten und ich sah, wie er sich an das eine Ende eines dicken Wälzers klammerte. Elisa kam in mein Blickfeld, das Gesicht angestrengt verzogen, die Finger um den ledernen Einband geschlossen, an dem sie verzweifelt zog.
Ich stellte mich neben die Streithähne, die so komisch wirkten, dass man eigentlich über sie hätte lachen müssen. Elisa war einen halben Kopf größer als Oscar, doch er war sicher doppelt so breit wie ihre schmale Statur. Ihre Münder waren wutverzerrt und sie wirkten wie Karikaturen ihrer selbst.
Geräuschvoll räusperte ich mich.
Sie zuckten beide so erschrocken zusammen, als hätte ich sie geohrfeigt. Oscars Hände rutschen vom Buch ab. Elisa taumelte einen Schritt zurück.
»Geben Sie mir das Buch«, sagte ich streng und streckte fordernd die Hand danach aus. Elisa sah mich erst überrascht an, während ich ihren Blick erwiderte, als wäre sie eine Fremde, und dann musterte sie mich misstrauisch mit zusammengekniffenen Augen. Das Buch reichte sie mir widerstandslos.
Es war schwer und ich konnte mir den Titel nicht ansehen, da ich keinen aus den Augen verlieren wollte, um nicht an Autorität einzubüßen.
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