Schön für dich, kommentierte Hub.
Dann habe ich mich ans Ufer des Hudson gesetzt und zugesehen, wie die Sonne über der Skyline von Manhattan aufging.
Auch schön, wiederholte Hub. Aber ich glaube, hier ist irgendwas im Busch, Alter. Die Schwingungen sind heftig, und Mom hat geweint. Die ganze Nacht.
Sie ist eben traurig. Das kommt immer mal wieder hoch, sagte ich, aber mein Herz stolperte in der Brust und sandte einen schmerzhaften Stich in meine linke Seite. Sie weint sowieso viel.
Letzte Nacht war es aber anders, beharrte Hub. Er setzte sich auf die Hinterbeine und sah mich an, die Ohren aufgestellt. Dad war auch zu still. So richtig verdrießlich. Kannst du nicht mal eben in ihre Köpfe hüpfen und herausfinden, was da los ist? Eine kleine psychische Untersuchung?
Komm schon, Alter, du weißt doch, dass ich das nicht gern mache. Ein unwillkürliches, beinahe melodisches Stöhnen entfuhr mir. Mein Kopf rollte zur anderen Seite. Mein Blick war jetzt auf das Fenster gerichtet. Ein Rechteck aus grauem Himmel. Ich sehe Dinge, die ich nicht sehen sollte. Auf die ich kein Recht habe. Das ist so was von nicht cool.
Hub ließ sich wieder auf alle vier Pfoten nieder. Ich würde doch nur gern wissen, dass es nichts Ernstes ist. Das ist alles.
Und selbst wenn ich in ihre Gedanken eindringen würde, gab ich zu bedenken. Was würde mir das nützen? Ich kann ihre Entscheidungen nicht beeinflussen.
Das stimmt leider. Meine Fähigkeiten sind begrenzt. Die Tatsache, dass ich Zugang zum Verstand anderer Menschen habe, bedeutet ja nicht, dass ich kontrollieren kann, was sie tun. Ich wünschte verdammt noch mal, dass ich das könnte. Und manchmal wünsche ich mir, ich könnte ihre Köpfe explodieren lassen, wie in Scanners. Das wäre großartig. Aber die Wahrheit ist, dass Menschen nur innerhalb der winzig kleinen Blase ihres bewussten Verstandes funktionieren und agieren. Freud hat die Psyche mit einem Eisberg verglichen, von dem nur zehn Prozent (das Bewusstsein) sichtbar sind. Alles andere (das Ich, das Über-Ich und das Es – mit anderen Worten: all das krasse Zeug) ist unter der Oberfläche verborgen. Der Eisberg ist eine gute Metapher und größtenteils stimmig. Aber ich stelle mir den bewussten Verstand lieber als Mauer vor. Solide und widerstandsfähig; nicht wie eine Gartenmauer, über die man mal eben so hüpfen kann. Eher wie eine Barrikade, schwer bewacht, dazu bestimmt, die Dinge dahinter zu schützen und unerwünschte Dinge davon abzuhalten hineinzugelangen – aber ebenso zu verhindern, dass die wesentlichen Bestandteile abhauen. Das Bewusstsein ähnelt weit mehr der koreanischen entmilitarisierten Zone als der Spitze eines Eisbergs, das kannst du mir glauben.
Ich nenne es die Selbstschutzmauer. Sie definiert dich. Erbaut aus Genen und Erfahrung, und jeder Stein wird von Gefühlen zusammengehalten. Das sind die Dinge, die dich stark machen. Jeder normale, geistig gesunde Mensch hat so eine Mauer, denn die sorgt dafür, dass man den Verstand nicht verliert. Ich kann in deinen Kopf springen und die Mauer sehen. Ich kann sogar mit meinen Fingerknöcheln dagegenklopfen. Aber die einzige Möglichkeit, auf die andere Seite zu gelangen – in dich hinein, wo ich deine Entscheidungen steuern und auf telepathischer Ebene mit dir kommunizieren kann –, besteht darin, dass du mich einlädst. Und das wird nicht passieren. Nicht wenn du bei Verstand bist.
Meine Mauer wurde bei dem Unfall zerstört. Es ist nichts davon übrig. Um erneut Freuds Metapher zu bemühen, für mich ist der Eisberg kopfüber getaucht. Ich existiere seither in den neunzig Prozent, die man nicht sehen kann, und ich habe keinen Zugang zu den übrigen zehn Prozent. Deswegen kann ich weder laufen noch sprechen, aber dafür kann ich jederzeit ins warme Wasser des Lustprinzips eintauchen und mich im Sekundärvorgang austoben. Ich habe Zugang zu meiner psychischen, im Wortsinn übersinnlichen Energie und zu all meinen Erinnerungen. Meine Seele hat Flügel bekommen und mein Hirn läuft auf mehr als nur Hochtouren; es arbeitet mit der Geschwindigkeit von PetaFLOPS, auch wenn Dr. Thinker etwas anderes behauptet.
Es gibt Vorgänge und Situationen, in denen die Mauer schwächer, durchlässiger ist. Im Schlaf steigt das Unterbewusste an die Oberfläche, ebenso wie in Momenten leidenschaftlicher Kreativität. Künstler reden oft davon, vollkommen in ihrer Kunst aufzugehen, im Flow oder von ihrer Muse geküsst worden zu sein. Die Welt da draußen verblasst und sie existieren einen kostbaren, köstlichen Augenblick lang an einem anderen Ort. Im Grunde kann man sagen, dass sie die Wachen von der Mauer abberufen und ein winziges Fenster geöffnet haben, durch das Informationen dringen dürfen. Bei Kreativität geht es vor allem darum, Blockaden zu öffnen und beiseitezuschieben. Himmel, das ist der einzige Grund, wieso du das hier lesen kannst. Irgendwo sitzt ein Autor, der glaubt, dass er sich das alles ausdenkt, während ich ihm in Wirklichkeit die ganze Zeit meine Informationen durch sein kreatives Fensterchen schiebe.
Die Einfallsreichen und Verrückten … die einzigen Menschen, die ihre Mauern niedergerissen haben. Mach daraus, was du willst.
Tiere verfügen ebenfalls über solche Mauern, aber bei ihnen sind sie niedrig und unbewacht, was den Austausch von Informationen erleichtert. Ihre Köpfe sind häufig ziemlich leer, aber manche von ihnen, insbesondere Hunde, sind schlau und aufgeweckt. Hub macht da keine Ausnahme.
Du hast es doch selbst gesagt, Mann, gab er nun zurück, stand auf und ging auf die andere Seite des Bettes, sodass ich ihn sehen konnte. Die Atmosphäre hier im Haus ist beschissen in letzter Zeit und das gefällt mir gar nicht.
Mir doch auch nicht, gab ich zu. Aber das passiert eben von Zeit zu Zeit. Mom und Dad haben sich wahrscheinlich gestritten und sind jetzt noch ein wenig frostig im Umgang miteinander. Das geht vorüber, vertrau mir.
Hoffentlich hast du recht.
Natürlich habe ich recht.
Vereinzelte Regentropfen klopften ans Fenster wie ein kleines Tier, irgendeine Kreatur, die versuchte, aus einer Kiste zu gelangen. Das Grau des Himmels war noch einen Ton dunkler geworden. Meine Seele sehnte sich danach, die Flügel auszubreiten. Ich stellte mir ein helles Sandband vor, dazu die Beach Boys, die Good Vibrations singen, und den erfrischend intensiven Geschmack eines Mojitos. Ich hätte in diesem Moment ganz leicht loslassen können – ich wollte loslassen –, aber ich blieb bei Hub, meinem Kumpel.
Es war eine irre Woche, stellte er mit Nachdruck fest. Die miese Stimmung, dann kündigt Fat Annie und mit mir geht tagelang keiner raus …
Was?, unterbreche ich ihn hastig. Fat Annie hat gekündigt? Ist das dein Ernst?
Alter, hast du das nicht gewusst?
Zur Hölle, nein.
Wofür genau benutzt du dieses Superhirn?
Ich war … Ich unterbrach mich und spürte die Tränen, die in meinen Augen brannten, obwohl diese trocken blieben und nicht einmal blinzelten. Fat Annie war meine Pflegerin, und das jetzt schon seit achtzehn Monaten. Sie war streng (besaß jedoch auch die Neigung, gelegentlich furchtbar lieb zu sein), aber unleugbar effizient, wie Mr. Miyagi. Ich hegte den allergrößten Respekt für sie. Ach was, ich liebte sie. In Anbetracht unserer besonderen Beziehung war es schlicht unmöglich, keine enge Bindung zu ihr zu haben. Sie kam fast jeden Tag für drei Stunden zu uns, überprüfte meine Vitalwerte, kümmerte sich um die PEG-Sonde, die mich mit Nährstoffen versorgte, sowie um meine Toilettengänge (womit ich ausdrücken will, dass sie meine Windeln wechselte und mir den Arsch abwischte). Sie wusch mich mit einem Schwamm und ging dabei so zärtlich vor, dass ich am ganzen Körper vor Wonne erschauerte. Sie massierte meine Glieder, um den Blutkreislauf in Gang zu halten, und exerzierte eine Reihe von schmerzhaften, aber notwendigen Bewegungsübungen mit mir durch, um die Gelenke beweglich zu halten. Außerdem verabreichte sie mir meine Tinzaparin-Spritze, ein blutverdünnendes Mittel, das so unschöne Dinge wie tiefe Venenthrombose und Lungenembolie verhindert. 10.000 Einheiten, die mir in den Unterbauch injiziert werden. Ich habe eine kleine, saubere Stelle am Bauch, die ganz hart ist, weil dort ständig die Nadel hineingeht … Ja, ist ein Riesenspaß, ich zu sein. Wenn das Wetter gut war, hat sie mich manchmal in den Rollstuhl bugsiert und um den Block geschoben, oder bis zur Bücherei, wo es schön ruhig war und der Geruch der Bücher einen zu Tagträumen verleitete. Wenn es draußen zu kalt war, platzierte sie mich in meinen Sessel und las mir etwas vor. Nachdem sie das Bettzeug gewechselt hatte, hob sie mich wieder ins Bett zurück und legte kleine Kissen unter meine Ellbogen und Fersen, um Dekubitusgeschwüre zu vermeiden. Und sie redete die ganze Zeit mit mir während all dieser Tätigkeiten. Normal. Keine Babysprache (du würdest dich wundern, wie viele meiner Besucher automatisch in Babysprache verfallen, wenn sie es mit mir zu tun haben: Hey, Wessy … Geht’s dir gut? Ui, du hast da ein kleines bissi Spucki an deinem Kinnchen). Keine Verblödung oder Unsicherheit bei ihr. Sie sprach so mit mir, wie es sich gehört: als wäre ich ein Mensch.
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