Dad nickte und Moms Augen füllten sich mit Tränen. Ich huschte aufgewühlt im Raum umher, brachte die Luft zum Schimmern.
»Ich kann mir kaum vorstellen, wie schwer das alles für Sie sein muss.«
Mom fischte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und tupfte sich die Wangen trocken.
»Bitte entschuldigen Sie meine Unwissenheit«, meldete Dad sich zu Wort. »Das Ganze ist so surreal und gefühlsbeladen … Aber wie liefe das denn ab, lebenserhaltende Maßnahmen einzustellen?«
»Seine Magensonde würde entfernt werden«, erklärte Dr. Thinker.
»Richtig. Natürlich.« Dad dachte kurz darüber nach und zog dann die Brauen zusammen. »Damit er verhungert?«
»Nun, er bekäme eben nicht länger die notwendigen Nährstoffe und die Flüssigkeit, die ihn am Leben erhalten.«
»Beschönigen Sie es doch nicht, Doc. Er würde verhungern.« Dad schüttelte den Kopf. »Himmel Herrgott, man legt ja nicht einfach einen Schalter um und das war’s, oder? Wie lange dauert es dann, bis er stirbt?«
»Das kann ich unmöglich sagen.« Dr. Thinker lehnte sich wieder vor und seine Augen verschwanden im blendenden Sonnenlicht. »Es gibt eine Menge Variablen. Das kann Tage, manchmal auch Wochen dauern, abhängig von der Hydration des Patienten.«
»Wochen?«, wiederholte Dad. Seine Stimme ging entsetzt in die Höhe. Wenn er sich aufregt, klingt er wie Micky Maus. Mom fällt es manchmal schwer, ein ernstes Gesicht zu machen, wenn die beiden streiten. »Über welchen Zeitraum reden wir hier … zwei Wochen? Drei?«
»In einigen Fällen kann es durchaus so lange dauern, aber wie gesagt, es gibt viele Variablen, die das beeinflussen.«
»Entschuldigen Sie, aber … Haben Sie vorhin das Wort barmherzig verwendet?«
»Es ist eine Entscheidung, die Sie zu gegebener Zeit treffen werden, abhängig davon, wie es Ihnen nach einer Weile mit der Situation geht und wovon Sie glauben, dass Westlake es wollen würde.«
»Ich bin ziemlich sicher, dass er nicht verhungern möchte.«
»Glauben Sie, wenn er in der Lage wäre, selbst zu denken und seine Situation zu erfassen, würde er es vorziehen, für den Rest seines Lebens im Wachkoma zu liegen?«
Dad zupfte wieder an seinen Nagelhäutchen und blies überfordert die Backen auf. Mom ruinierte ein weiteres Taschentuch. Winzige weiße Fetzen davon blieben auf ihrem Schoß, vorn auf ihrem Pullover. Die Tränen flossen immer weiter. Sie glänzten im Sonnenlicht wie Dr. Thinkers Brillengläser. Ich huschte weiterhin im Raum umher, denn ich war fassungslos, dass dieses Gespräch überhaupt stattfand. Ich fragte mich, ob ich zittern würde, wenn ich jetzt wieder in meinen Körper führe.
»Und es gibt keine schnellere Methode?«, fragte Dad nun.
»Cedar«, mahnte Mom. »Wir werden das nicht …«
»Ich frage doch nur«, beschwichtigte Dad.
»Schneller?«, echote Dr. Thinker. »Was meinen Sie denn damit?«
»Eine Pille oder eine Injektion.«
»Cedar …«
»Sterbehilfe ist in Kanada verboten, Mr. Soul.«
»Einen raschen, gnädigen Tod herbeizuführen ist also illegal«, stellte Dad fest. »Aber jemanden auf unbestimmte Zeit langsam verhungern zu lassen, ist vollkommen in Ordnung?«
»Ich mache die Gesetze nicht, Mr. Soul.« Der knappe Ton verriet mir, dass Dr. Thinker langsam ungeduldig wurde. Seine Wangen bekamen rote Flecken, die denen in seinen Augen ähnelten. »Ich liefere Ihnen Informationen, damit Sie eine sachkundige Entscheidung treffen können, sollten Sie sich in der geschilderten Situation wiederfinden.«
Die Stille legte sich schwer auf den Raum. Ein blauer Himmel ohne Sonnenschein. Eine verwaschene, kühle Leere. Mom durchbrach das Schweigen schließlich mit ihrem kläglichen Versuch, nicht laut aufzuschluchzen. Ein Zischen entfuhr ihr, die Schultern bebten, Taschentuchfusseln klebten ihr tränennass im Gesicht.
»Niemals«, wisperte sie.
Ich flog zu ihr hinüber und hielt sie fest, aber ich wusste, dass sie mich nicht spüren konnte.
5
Hub
Sein voller Name lautet Hubba-Hubba Artful Soul (meine Eltern mal wieder; ehrlich, Mann). Er ist ein Schnudel, eine Kreuzung zwischen Schnauzer und Pudel, was vor allem bedeutet, dass er unfassbar niedlich ist. Goldfarbenes Fell, seine Augen große, flüssig-schwarze Tropfen, dazu die warme Nase. Jetzt, wo ich ja nicht mehr allzu viel von Darryl oder einem der Jungs sehe, würde ich sagen, dass Hub mein bester Freund auf der ganzen Welt ist. Nein, das stimmt nicht, denn Hub war schon immer mein bester Freund auf der ganzen Welt. Nur mussten sich erst die Umstände ändern, damit mir das auch klar wurde. Schnudel (aber nenn’ ihn bloß nicht so, er hört eh nur auf Hub) sind von Natur aus sehr aktiv. Sie lieben es zu spielen, Stöckchen zu holen, Gassi zu gehen. Sie wollen dabei sein, wenn ihre Menschen Twister spielen. Du kennst diese Art Hund sicher: Die rennen aufgeregt um alles herum, die Ohren aufgestellt, und wollen mitmachen. Hub nicht. Es ist nicht so, dass er faul oder so was ist, eher … entspannt. Was soll ich sagen? Der Kerl ist einfach cool.
Wir haben ihn vor vier Jahren aus dem Tierheim geholt. Damals war er acht Monate alt. Ein ungewolltes Weihnachtsgeschenk. Wir hatten schon eine Weile über einen Familienhund nachgedacht, uns über Pflege und Verantwortung schlaugemacht. Namen und Rassen in den Ring geworfen. Nachgelesen, welche Rassen wie viel fressen, wie oft rausmüssen. Schließlich erklärte Dad uns für bereit, und wir erschienen gemeinsam als Familie im Tierheim, hatten aber alle völlig unterschiedliche Vorstellungen davon, mit welcher Art Hund wir den Laden wieder verlassen würden. Dad wollte etwas Zuverlässiges, einen Hund, der uns beschützen konnte, vorzugsweise so groß wie ein Pferd. Mom wollte etwas, das angenehm aus der Schnauze roch und nicht zu viele Haare verlor. Niki war gerade in ihrer Paris-Hilton-Phase und wünschte sich etwas, das sie in ihrer Handtasche aus dem Haus schmuggeln konnte. Ein Hündchen, das in einem Kleidchen von Lady B. Couture eine gute Figur machen würde. Ich wollte einen Hund, dem ich das Surfen beibringen konnte.
Um die Herren Jagger und Richards zu paraphrasieren: Keiner von uns bekam, was er wollte, aber wir alle bekamen, was wir brauchten.
Hubba-Hubba.
Die meisten Hunde drehten völlig durch, als wir den Raum mit den Zwingern betraten. Sie bellten und kläfften, hoben die Pfoten an die Gitter, jagten ihre eigenen, wild wedelnden Schwänze, kämpften um Aufmerksamkeit. Mom hielt sich die Ohren zu, während Niki entzückt quiekte und bereits nach einem Handtaschenhund Ausschau hielt. Dad verdrehte die Augen und trat einen Schritt zurück. Ich sah ihm an, dass er plötzlich gar nicht mehr so sicher war; seine Gedanken waren wie erschrockenes Vieh auf der Weide. Mir fiel einer der wenigen Hunde auf, die nicht bellten. Im Grunde tat er überhaupt nichts. Er lag hinten in seinem Käfig, ein Vorderbein über den Augen, und sah aus wie ein Mann mit Kopfschmerzen. Ich ging langsam hinüber, hockte mich vor die Gitterstäbe und blickte hindurch.
»Na, Kleiner?«
Nichts. Sein rosafarbener Bauch bewegte sich, wenn er atmete, sonst regte er sich nicht.
Ich klopfte an die Gitterstäbe. Er senkte das Vorderbein und öffnete ein Auge. Das brachte mich zum Lachen. Hast du je einen Hund gesehen, der nur ein Auge aufmacht? Das kommt nicht allzu oft vor. Er blickte mich einen Moment lang an, dann schloss er das Auge wieder. Das Vorderbein legte er wieder übers Gesicht.
»Ich glaube, dieser hier hat einen Kater«, stellte ich fest. »Den will ich.«
Mom und Dad gesellten sich zu mir. Ich versuchte den Köter dazu zu bringen, irgendetwas zu tun, womit er sich bei meinen Leuten beliebt machen würde, ganz egal was. Aber er blieb in derselben Position liegen und tat gar nichts, so als wäre er eben erst von einem Wochenende in Amsterdam zurückgekommen.
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