»Das glaube ich nicht«, sagte Mom zu Dr. Thinker. »Mein Baby ist immer noch dadrin. Ich kann ihn sehen. Ich kann ihn spüren.«
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine Superheldenkräfte bereits akzeptiert, und wenn ich nicht gerade damit beschäftigt war, gegen Dr. Quietus zu kämpfen oder mich in einer glückseligen Secondhand-Realität aufzuhalten, suchte ich nach einem Ausweg. Einer Möglichkeit, wieder zu leben. Ich benutzte all meine Kraft, den motorischen Kortex anzuwerfen, meine Zehen einzurollen oder mit den Fingern zu zucken, aber ohne Erfolg. Himmel, ich war schneller als eine abgefeuerte Kugel und stärker als eine Lokomotive, und doch konnte ich nicht einmal mit meinem kleinen Finger wackeln. Ich schnappte mir mein Board und surfte über die universelle Wellenfunktion, denn ich glaubte, ich könnte dort einen Abzweig finden, in die andere Richtung gleiten und dann in einer alternativen Realität die Augen öffnen. Aber das Wasser war spiegelglatt und ich sank mehr, als dass ich surfte. Aus dieser Erfahrung schloss ich, dass das Leben doch nur in der Gegenwart existiert. Die Vergangenheit ist ein fauler Apfel. Zu nichts mehr zu gebrauchen. Nicht einmal für Apfelkuchen.
Ich schrie meinen Körper an, er solle sich bewegen. Meine Augen, sich zu öffnen. Meine Stimme, Gehör zu finden. Ich hob schweres Gerät über meinen Kopf, brach mit voller Wucht durch Betonwände und flog fünfzigtausendmal um die Erde, immer entgegen der Erdrotation. Nichts. Nicht einmal ein Flackern. Erschöpft und meines Lebens beraubt ließ ich meine nutzlose Hülle zurück und glitt über den Ozean, lauschte seinem Herzschlag, während sich meine Tränen mit der Gischt verbanden.
Glaub mir, auch deine Seele kann weinen.
»Sie sollten sich darüber im Klaren sein«, erklärte Dr. Thinker meinen Eltern, »dass Westlake keinerlei Lebensqualität haben wird und dass die Last, die Sie als seine Eltern tragen, Ihnen alles abverlangt.«
»Er ist unser Sohn«, widersprach Dad. »Er wird niemals eine Last sein.«
»Es gibt Programme, die Ihnen helfen können, damit fertigzuwerden«, fuhr Dr. Thinker ungerührt fort. »Ich werde Sie mit den notwendigen Informationen versorgen. Sie sollten auch über häusliche Pflege nachdenken.«
»Alles, was nötig ist«, erwiderte Dad.
Dr. Thinker nickte. »Ich muss Sie außerdem warnen, dass Westlakes Lebenserwartung ungewiss ist. Er ist nicht mehr so kräftig und widerstandsfähig wie früher und daher anfälliger für Infektionen. Er könnte eine Lungenentzündung bekommen, Atemwegsprobleme oder … sich dafür entscheiden, einfach aufzugeben.«
Aufgeben? Niemals. Nicht solange es Wellen gibt, die man surfen kann.
»Wollen Sie uns also sagen«, wollte Mom wissen, »dass er jeden Moment sterben könnte?«
»Er kann auch noch vierzig Jahre in diesem Zustand weiterleben«, erwiderte Dr. Thinker. »Ich möchte Sie lediglich auf das Schlimmste vorbereiten.«
»Er ist eine Kämpfernatur«, widersprach meine Mutter.
»Westlake hat keinerlei kognitive Fähigkeiten«, erklärte der Arzt. »Er kämpft nicht, Mrs. Soul, weil ihm nicht klar ist, dass er in einen Kampf verwickelt ist. Er ist sich dessen nicht bewusst.«
Das war selbstverständlich nicht wahr. Ich klopfte bei Dr. Thinkers Verstand an, um ihm das klarzumachen, aber du wärst überrascht, wie schnell rational denkende Menschen seltsame Stimmen in ihrem Kopf abtun und verdrängen. Das ist nur einer der vielen Gründe, wieso die Kommunikation mit Menschen auf der telepathischen Ebene sich so schwierig gestaltet, selbst für mich.
Recht hatte er allerdings, was meine Lebenserwartung anging. Ich kämpfe häufig mit Dr. Quietus. Meistens sind das kurze, heftige Scharmützel. Er erscheint in vielen Gestalten, immer dunkel und geschmeidig. Sein wahres Gesicht habe ich noch nie gesehen. Er lässt einfach nur seine kalten Hände um mich gleiten. Der ultimative Superschurke. Ich brauche meine gesamte mentale Kraft und Stärke, um ihn abzuschütteln. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ich nach außen so ausdruckslos erscheine, während ich in meinem Innern auf dem Dach einer Seilbahn in der Schweiz mit meinem niederträchtigen Erzfeind ringe oder seinem Todesstrahl ausweiche und durch die flimmernde Skyline Tokios flitze.
Von all unseren Kämpfen war der erste – während mein Körper noch tief im Koma lag – der längste und brutalste. Er griff mich an, kalt und vermummt, erfüllte mich mit solcher Furcht, dass es sich anfühlte, als wäre meine Seele in Teer getaucht und mit einem Hammer zerschlagen worden. Zunächst war es ein Katz-und-Mausspiel. Der Hurensohn hätte mich jederzeit erledigen können. Stattdessen lachte er gackernd und betatschte mich. Ich kroch in eine Ecke und betete um Licht. Es wäre einfacher gewesen, mich zu ergeben, vielleicht ein wenig zu zappeln, mich hoffnungslos aufzubäumen wie ein Fisch an Land – aber Mom hatte recht: Ich bin eine Kämpfernatur. Ich wütete und wehrte mich gegen ihn. Wir wälzten uns auf den Straßen meines Komas, ineinander verknäuelt, teilten wilde Hiebe aus. Und irgendwo in dieser düsteren Weite fand ich meine innere Stärke. Dr. Quietus war ihr nicht gewachsen. Er zog sich zurück, schwor aber, dass er wiederkommen würde, und ich öffnete meine Augen und sah das chromhelle Krankenzimmer und hörte die tiefe Trauer meiner Eltern.
Ich lebe noch.
Aber er ist da … immer da. Bereit zum Angriff.
Mein Erzfeind.
Vor meiner Rückkehr nach Hause (zu dem bunt gestrichenen Zimmer und dem eiförmigen Mork-Sessel) machte ich eine kleine Astralreise, um einer Besprechung meiner Eltern mit Dr. Thinker beizuwohnen. Ich wünschte, das hätte ich nicht getan. Es war frustrierend und besorgniserregend. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich sieben Monate im Krankenhaus gelegen und meine Eltern hatten akzeptiert, dass mein Zustand sich wahrscheinlich nicht verbessern würde.
»Ich bin sicher, Ihnen ist klar, wie anstrengend die dauerhafte Pflege Ihres Sohnes sein wird.«
Mom und Dad nickten. Ich schwebte um sie herum, leichter als ein Atemhauch. Dad zupfte an seinen Nagelhäutchen. Eine nervöse Angewohnheit. Mom fuhr sich mit den Zähnen über die Oberlippe. Dr. Thinkers dicke Brillengläser fingen das Sonnenlicht ein, das durch das Fenster hereinfloss. Wegen der Reflexion waren seine blassen Augen nicht zu erkennen.
»Was mich zu einem heiklen Thema führt«, fuhr er fort. »Vermutlich – sogar ziemlich sicher – werden Sie irgendwann an einen Punkt kommen, an dem Sie ernsthaft über Westlakes Lebensqualität nachdenken. Oder über das Fehlen derselben, um genau zu sein. Wenn Sie alle Aspekte in Betracht ziehen, kommen Sie möglicherweise zu dem Schluss, dass es barmherziger ist, die lebenserhaltenden Maßnahmen einzustellen.«
Moms Augen weiteten sich. »Sie meinen, ihn umzubringen?«
»So würde ich das nicht ausdrücken, Mrs. Soul.«
»Aber Sie meinen, sein Leben zu beenden?«
»Lebenserhaltende Maßnahmen einzustellen.«
»Ja. Sein Leben beenden.«
Dr. Thinker lehnte sich auf seinem Bürostuhl zurück und das Sonnenlicht traf nicht länger auf seine Brillengläser. Jetzt konnte ich seine Augen sehen. Sie waren klein und golden, mit roten Sprenkeln. Haben mich an den Teufel erinnert. Er zupfte an seinem Ohrläppchen – vielleicht seine nervöse Angewohnheit – und nahm einen Stift in die Hand, der auf dem Schreibtisch gelegen hatte. Aber er schrieb nicht damit, er fuhr bloß mit dem Daumen über die vordere Hälfte.
»Ich bin kein Berater oder Beistand; ich kann Ihnen nicht sagen, was für Sie und Ihren Sohn das Richtige ist.« Er versuchte sich an einem mitfühlenden Ausdruck, aber so richtig wollte der ihm nicht gelingen. Vielleicht lag es an den roten Flecken in seinen Augen. »Diese Entscheidung können nur Sie treffen, aber die Erfahrung hat gezeigt, dass Sie sich irgendwann fragen werden, was Westlake wollen würde. Ich möchte Sie lediglich über Ihre Optionen informieren. Das ist alles.«
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