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Wie man einen Superhelden erschafft
Ich habe eine klare Vorstellung von Vollkommenheit. Das vogelartige Gewicht ihrer Hand in meiner. Ihr Atem so süß, beinahe Karamell. Die Art, wie ihre Lippen über meine Haut tanzten, und die Wünsche in ihren Augen – meine Wünsche, die mir noch gewährt werden sollten.
Nadia Charles. Ein Name wie der eines Bond-Girls. Sie sah aus wie ein Bond-Girl, mit einem Wirbel aus schwarzen Haaren und einem Körper, der so ebenmäßig war, dass man denken könnte, sie wäre in den Händen eines Bildhauers entstanden. Verdächtige Schönheit. Ich besitze all meine Erinnerungen an sie, lebhaft genug, um sie jederzeit heraufbeschwören zu können (einer der Vorteile, wenn man sich in das zurückgezogen hat, was Jung das persönliche Unbewusste nannte und was ich als Secondhand-Realität bezeichne). Meine liebste Erinnerung ist gleichzeitig die, die am meisten schmerzt. Unser letzter gemeinsamer Morgen. Das letzte Mal, dass wir miteinander geschlafen haben. Das letzte Mal, dass ich ihre Lippen spürte.
Ich lasse das oft wieder aufleben; der Schmerz hilft mir dabei, mich normal zu fühlen.
»Baby«, hatte sie mich gebeten, »öffne doch die Jalousien ein Stück. Ich liebe es, wenn die Sonnenstrahlen alles rosa färben.«
Wir hatten Urlaub in Tofino gemacht, in British Columbia. Drei Wochen Strandleben. Ich, mein bester Freund Darryl und unsere Mädchen. Den ganzen Tag auf dem Board, abends richtig geile Partys. Das Donnern und Rauschen des Pazifik. Das Ploppen von Bierflaschen. Die Art Musik, bei der man nicht still sitzen kann, sondern tanzen muss. Es sollte der beste Sommer aller Zeiten werden, an den wir uns so lange zurückerinnern würden, bis uns unser Erinnerungsvermögen im Stich ließ.
Früher Morgen, Dämmerung. Nadia war gerade aufgewacht. Ihre dunklen Augen hatten diesen zerknitterten, verschlafenen Ausdruck. Bezaubernd. Ich öffnete die Jalousien nur einen Spalt weit und schräge Streifen rosafarbenen Lichts flossen in unser Zimmer, berührten ihren Körper wie die Linien auf einem Notenblatt. Ich küsste sie. Willkürlich aufeinanderfolgende Töne, einer Katze ähnlich, die über die Tasten eines Klaviers läuft.
»Hier«, sagte sie und öffnete sich mir.
Unzählige Klischees. Bei ihr fühlte ich mich lebendig. Sie war der Ozean. Die Zeit stand still. Alles, was ich mir je gewünscht hatte. Die Wahrheit ist, dass all diese Klischees zutrafen. Aber es gab noch viel mehr, all die kleinen Dinge, die man nicht in Worte fassen kann. Die Art, wie unsere Zähne manchmal gegeneinanderstießen, wenn wir uns küssten. Unser ähnlich klingendes Lachen. Dass wir immer die Ersten auf der Tanzfläche waren. Wie sie darauf bestand, mir den Reißverschluss meines Neoprenanzugs runterzuziehen, weil sie es gern sah, wenn das eng anliegende Material aufklaffte und meine trainierten Nacken- und Schultermuskeln enthüllt wurden. Und so weiter und so weiter … All die Dinge, die uns definierten.
»Ich will deine Seele sein«, sagte sie, nachdem wir uns zum letzten Mal geliebt hatten.
»Nadia Soul?«, fragte ich.
»Mir gefällt, wie das klingt«, erwiderte sie.
Ich lächelte und ließ meinen Finger nach unten gleiten; von der Kuhle an ihrer Kehle bis hinunter zu der Stelle, an der das Schamhaar zu wachsen begann. Ich hinterließ einen Pfad in unserem Schweiß, der das rosige Licht einfing wie ein Streifen aus Chrom.
»Mir gefällt auch, wie das klingt«, stimmte ich zu.
Sie war neunzehn, ich einundzwanzig. Wir hatten uns im Sommer zuvor beim Skate-Krazy-Turnier in Toronto kennengelernt. Ich würde es zwar nicht Liebe auf den ersten Blick nennen, aber Nadia war definitiv cool auf den ersten Blick. Eines der Mädchen, die dein Ego zum Schnurren bringen. Sie war die DJane für den Vorentscheid der Männer. Den Kopfhörer von Allen & Heath hatte sie lässig auf einem Ohr geparkt, während sie mit irren Effekten und Backspins auf den Jubel der Menge reagierte. Sie trug ein weißes Bikini-Oberteil und einen Jeansrock, Sonnenbrille von Donna Karan. Das Rip Curl-Logo als Arschgeweih. Ein Mädchen ganz nach meinem Geschmack.
Ich sprach sie auf der Party an. Sie war mit einem Schlägertypen namens Farley zusammen. Stell dir einen Kerl in deinem Fitnessstudio vor, der gerade einmal dreißig Sekunden mit Schwergewichten und ein paar Wiederholungen verbringt und danach zehn Minuten lang vor jedem verfügbaren Spiegel posiert, stolziert, die Muskeln spielen lässt. Genau so einer ist Farley. Ich musste mich nicht vorstellen; Nadia wusste, wer ich war. Anscheinend waren wir Freunde auf Facebook. Farley schüttelte meine Hand und drückte viel zu fest zu. Ich lächelte ihn an, um ihm klarzumachen, dass alles easy war, obwohl ich natürlich die feste Absicht hatte, seine Freundin mit der SuperPoke!-App auf Facebook anzustupsen.
Ich tat es und warf ein Schaf nach ihr. Sie warf ein Huhn zurück. Ich legte einen Chest Bump nach, den sie mit einem High Five beantwortete. Dann kitzelte ich sie und sie warf mir einen Luftkuss zu.
Farley sah, was wir taten. Natürlich. Er reagierte mit seinem eigenen SuperPoke, verpasste mir einen Roundhouse-Kick, woraufhin ich seinen BH-Träger schnappen ließ. Er antwortete mit einem Dropkick, ich warf ein ShamWow auf ihn.
Daraufhin bekam ich eine Privatnachricht von Farley. Ohne Betreff, nur eine Warnung voller Rechtschreibfehler: Pass beser auf was du als nächtes tust du aroganter Witzbolt.
Ich entfreundete und blockierte ihn, warf aber vorher noch einen Ninja-Wurfstern nach ihm. Dann schrieb ich Nadia eine Privatnachricht: Dein Freund scheint wütend auf mich zu sein. Schätze, er mag es nicht, wenn ich dich anstupse. Sie schrieb zurück: Er ist nicht wirklich mein Freund. Nur ein Kerl, der gern mein Freund wäre. Und ich mag es, wenn du mich anstupst. Nicht aufhören.
Der Rest geschah schnell und mühelos. Dreizehn Monate Liebe, die mit einem virtuell geworfenen Schaf begann und mit rosafarbener Morgensonne endete. Natürlich hatte ich keinen Schimmer, dass es das Ende war. Ich glaubte, wir wären immer noch ganz am Anfang.
Während unserer letzten gemeinsamen Momente zeichnete ich mit meinem Finger Sterne um Nadias Brustwarzen und dachte darüber nach, wie unglaublich gut ihre Haut roch, wie perfekt die Sonne sie gebräunt hatte. Sie stellte sich währenddessen (damals ahnte ich es nicht einmal, aber jetzt weiß ich es) unsere Hochzeit vor. Irgendwo, wo es heiß war. Am Strand. Sie trug einen weißen Sarong, eine Orchidee im Haar. Ich hatte eine gehäkelte Rastafari-Mütze auf, Bermudashorts und Espadrilles an. Unser Page hatte kaffeebraune Haut und Dreadlocks. Die Zeremonie leitete Reverend Al Green.
»Willst du los?«, fragte sie.
Ich hörte, wie der Ozean nach mir rief.
»Ja.«
»Es ist noch früh«, sagte sie.
»Das ist die beste Zeit. Keine Anfänger im Weg. Da lassen sich sicher ein paar gute Roller erwischen.«
Sie berührte meine Brust. »Du kannst auch hierbleiben und dich mit mir herumrollen.«
Das war der Moment. Wenn ich alles, was passiert ist, in der Erinnerung noch einmal erlebe, dann lastet dieser Moment am schwersten auf meiner Seele. Er hat die Form eines Ypsilons, einer Weggabelung, ist in Ketten gelegt, die mit beinahe menschlicher Stimme zu rasseln scheinen: Hätte ich doch nur … Wäre ich doch nur …
Wie anders wäre mein Leben verlaufen, wenn ich bei Nadia geblieben wäre und die Wellen allein hätte rollen lassen? Ich will hier keine Quantenmechanik diskutieren, aber betrachte doch mal eine Sekunde lang die Formulierung relativer Zustände – eine allgemeingültige Wellenfunktion, die nicht an jedem Verzweigungspunkt zusammenbricht und die Existenz paralleler Welten impliziert. Nach dieser Theorie gibt es da draußen unendlich viele Westlake Souls, die in unendlich vielen Dimensionen leben. Und jede spaltet sich in die nächste auf. In einer dieser Welten blieb ich bei Nadia im rosa Sonnenlicht. Wir liebten uns wieder und wieder. Ich bin nicht surfen gegangen und im Anschluss auch nicht im Meer ertrunken. Da draußen gibt es tatsächlich einen Westlake Soul, der Nadia an einem Strand in der Karibik geheiratet hat … In der Realität jedoch bricht die Wellenfunktion zusammen.
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