Aus dem Amerikanischen von
Clauria Rapp
Grimma
Buchheim Verlag
2020
Deutsche Erstausgabe
ISBN: 978-3-946330-15-8
ISBN E-Book: 978-3-946330-19-6
© 2020 Buchheim Verlag, Olaf Buchheim, Grimma
Alle Rechte vorbehalten
Covermotiv: benSwerk
Lektorat: Claudia Pietschmann
Satz im Verlag
www.buchheim-verlag.de
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Westlake Soul
Copyright © 2012 by Rio Youers
published in agreement with the author,
c/o BAROR INTERNATIONAL, INC.,
Armonk, New York, U.S.A.
Für Emily
Zehntausend Fahrenheit
Teil 1 – Fauler Apfel
1
Keinen Mucks
Irgendwo schreibt irgendwer dies auf. So viel weiß ich; ich bin ein (quasi) lebendiges, atmendes Genie. Ich strecke die Hand aus und lasse es geschehen – direkt hier, vom Gemüsebeet aus. Das konnte nicht einmal Albert Einstein. Der Typ war krass mit seinen Atombomben und der Relativitätstheorie, aber konnte er etwa mit Hunden sprechen? Und Goethe … Niemand nutzte seine zehn Prozent des Eisbergs erfolgreicher als er, aber wenn es darum ging, das Ego und die Identität anzuzapfen, war er wie jeder andere von euch.
Mein Name ist Westlake Soul. Ich weiß, was ihr jetzt denkt … Mit einem solchen Namen könnte ich auch zu den Backgroundsängern von Gladys Knight gehören. Einer ihrer Pips. Aber ich bin kein Pip. Ich bin ein dreiundzwanzigjähriger ehemaliger Surfchampion (Billabong Classic 2007, Ride the Barrel 2008). Ich wohne in Hallow Falls, Ontario, mit meinen Eltern, meiner kleinen Schwester und unserem Hund, Hub. Ihr wollt eine Personenbeschreibung? Stellt euch Stephen Hawking vor. Jetzt denkt euch die Brille weg und verpasst ihm einen Haarschnitt, der an Kurt Cobain erinnert. Das ist ziemlich nah dran.
Ich bin allerdings schlauer als Hawking. Viel schlauer. Er hat Schiss, einen IQ-Test zu machen, aber ich kann euch verraten, dass er irgendwo um hundertsechzig liegen würde. Ich? Mann, ich würde das Messgerät zum Explodieren bringen. Die Wechsler-Skala, mit der die Intelligenz eines Erwachsenen gemessen wird, ist für einen Verstand wie meinen nicht gemacht. Sie würde hochgehen wie ein Wetterhahn in einem Tornado. Wie ein Thermometer auf der Sonne.
Alle Superhelden bekommen ihre Superkräfte irgendwoher. Der Biss einer radioaktiv verseuchten Spinne. Ein misslungenes Experiment. Ich habe meine von einem Surfunfall in Tofino. Der ultimative Wipeout. Aufgewacht bin ich mit dem mächtigsten Verstand auf dem Planeten, aber einem Körper wie ein nasser Sack. Der Tausch gefällt mir gar nicht, doch so ist das Leben. Ich gebe mich allerdings nicht damit zufrieden … Durch einen Schlauch ernährt zu werden, mit dauerhaft hängender Unterlippe – ich sabbere, verflucht noch mal. Ich werde mein Superhirn benutzen, um mich aus diesem Zustand zu befreien.
Das mit der Rettung der Welt könnt ihr vergessen.
Ich will bloß wieder surfen.
2
Loslassen
Der Ozean ist 621,2 Kilometer weit entfernt, aber ich kann ihn sehen, wann immer ich will. Ich muss lediglich meine Seele nach außen projizieren, was ohne die Ablenkungen des bewussten Verstandes ganz einfach ist. Stell dir vor, du hältst eine Feder vor einen elektrischen Ventilator und lässt sie dann los. Wenn du dich auf die Feder konzentrierst, oder auf den Luftstrom des Ventilators, dann wird das nichts. Wenn du dich auf das Loslassen konzentrierst – auf den exakten Moment des Ausklinkens –, dann schaffst du es.
Ich werde dir eine ganze Menge cooler Sachen zeigen.
Komm mit mir …
Das aufgewirbelte blaue Meer und Gischt, die wie ein Lächeln flimmert. Der Ozeangeruch, der dich einhüllt, der wiederkehrende Refrain sich brechender Wellen, und Möwen, die sich mit ihren Flügeln in die Thermik legen. Ein Katamaran gleitet über das Blau, die Segel voller Leben, und weiter draußen – meilenweit draußen, denn ich kann meine Seele so weit ausstrecken, wie ich will – taucht ein Buckelwal auf. Sein narbiger, muskulöser Leib dreht sich in der Luft. Umschlinge die Finnen auf seinem Rücken und reite mit mir. Spüre es, sei es. Das bist du. Kein Mensch, kein Gas, kein Licht. Du bist dieser Moment des Loslassens, verbunden mit dem Leben. Das Wasser rauscht durch dich hindurch und der Körper des Wals singt. Du drehst dich in einer Spirale abwärts und tauchst. Sein Herzschlag bringt dich zum Leuchten.
Was sollte ich sonst machen? Die verfluchte Decke über mir anstarren? Den Kopf zur Seite rollen und die verfluchte Wand anstarren?
Also bitte.
Okay, das ist nicht ganz fair. Meine Eltern haben ihr Bestes getan, mein Zimmer cool und gemütlich zu machen. Richtig groovy, meinte meine Mom, als sie mit der Umgestaltung fertig waren. So weit würde ich nicht gehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Earth, Wind & Fire hier lange würden abhängen wollen. Das Dekor soll anregend wirken. Es gibt eine Menge fröhlicher Farben. Ein Gelbton von Benjamin Moore, der »Little Angels« heißt. Die Decke ist in »Surf City«-Blau gestrichen. In der Ecke steht ein eiförmiger Sessel, der an den erinnert, in dem Mork immer saß, wenn er Orson anrief. Ein paar Sitzsäcke. Bilder von mir an den Wänden, beim Surfen, beim Eishockeyspielen und als ich Patrick Swayze traf. Ein Fenster mit Blick auf den rückwärtigen Garten. Regalbretter, auf denen all meine Surftrophäen stehen. Eine Yuccapalme in der anderen Ecke, die mich mit ihren saftigen, gesunden Blättern verhöhnt.
Ich will gar nicht zynisch klingen. Ich bin aufrichtig dankbar für die Liebe und Fürsorge, die mir zuteilwird, aber ich weiß eben auch, dass diese groovy Rundumerneuerung weit mehr für meine Eltern gedacht war als für mich. Sie redeten sich ein, dass die Farben und Trophäen dabei helfen könnten, mich aufzuwecken, dabei glaubten sie selbst keine Sekunde daran. Sie haben diese verrückte Vorstellung – und verdammt, die haben alle außer Hub –, dass ich weder Schmerzen noch Gefühle habe, weil ich nicht auf Stimulationen reagiere. Warum sich also die Mühe machen, die Decke blau zu streichen oder Bilder von mir aufzuhängen, auf denen ich durch Wellentunnel gleite? Scheiße, man braucht kein Superhirn, um diese Frage zu beantworten. Das haben sie gemacht, weil es deprimierend ist, mit mir zusammenzuleben. Geradezu herzzerreißend. Es macht keine Freude, mir den Sabber vom Kinn zu wischen und mich grunzen zu hören. Die Farben heben die Stimmung. So einfach ist das.
Ich habe auch einen Rollstuhl. Der ist mit Polstern ausgestattet, die dafür sorgen, dass mein Kopf nicht allzu sehr herumwackelt. Dass er nicht in die Rinne rollt, nennt mein Dad das. Wie beim Bowling, wenn die Kugel von der Bahn abkommt. In der Regel werde ich einmal am Tag ins Wohnzimmer geschoben. Nur für eine Stunde oder so, dann geht es zurück in meine groovige Buchte. Wenn das Wetter schön ist, bringen sie mich raus auf die hintere Terrasse. Ich weiß nicht genau, wieso, wo sie mich doch für empfindungslos halten. Eigentlich weiß ich genau, wieso. Es soll helfen, ihre Schuldgefühle zu lindern. Sie schämen sich nicht ganz so sehr, sich zu amüsieren, wenn ich mit zu viel Sonnencreme auf meinen Armen draußen an der frischen Luft sitze. Ich weiß, auch das klingt zynisch, aber so ist es einfach.
Im letzten Sommer hatten sie sich an einem Tag sogar so sehr amüsiert, dass sie mich vollkommen vergessen haben – mich fast die ganze Nacht auf der verdammten Terrasse stehen ließen.
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