Dietmar Sous - Bodensee

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"Dietmar Sous ist einer der eigenwilligsten Autoren der Gegenwart und hat sich als Chronist proletarischer Lebensläufe in der Provinz profiliert."
Denis Scheck, Deutschlandfunk
Mit «Bodensee» holt uns Dietmar Sous gewohnt bissig und gewohnt einfallsreich die 60er Jahre in unsere Köpfe – mit all ihrer Enge, ihrer unfreiwilligen Komik und dem Wirtschaftswunder, wofür hier der Bodensee steht.
Ein Roman wie eine schöne Erholung: pointenreich, literarisch versiert und passend für unsere etwas anstrengende und einengende Zeit.

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Gudrun Fröba

eISBN 978-3-88747-401-0

Dietmar Sous

BODENSEE

Roman

Bodensee - изображение 1

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

1

Wie jedes Jahr seit ungefähr dem Urknall fing auch 1962 mit dem 1. Januar an. Neujahr hätte als 1. Mai durchgehen können. Nur Wölkchen am Himmel, falls überhaupt, und Temperaturen, die Eis und Schnee zu Fremdwörtern machten.

Die Atombombenversuche der Amis und Russen seien schuld, sagte Vater, gelegentlicher Zeitungsleser und Nachrichtenhörer, und dass sich, wissenschaftlich absolut erwiesen, bei uns demnächst Wüsten, Kamele und an vierzig Grad im Schatten gewöhnte Mohammedaner breitmachen würden, außerdem Gestalten mit zwei Köpfen und drei kurzen Beinen. Mutationen im Atomzeitalter nennt man das, sagte Vater und schob das Kinn vor.

Ich wollte mithalten, beweisen, dass ich intellektuell auf dem grünen Zweig, nicht auf dem von Vater erhofften absteigenden Ast war. Mutation kommt aus dem Lateinischen, sagte ich. Mutare heißt wechseln, verändern.

Maulheld, Wichtigtuer, antwortete Vater so unvermittelt und aufgebracht, dass ich zusammenzuckte.

Er legte an Lautstärke noch einen Zahn zu.

Wer verdient denn hier das Geld? Der blöde Arbeiter oder der Herr Gymnasiast mit seinem ausgestorbenen Latein, das kein Mensch braucht?

Auch fünf Jahre, nachdem Leni mich gegen seinen Willen zur Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium angemeldet hatte, war er immer noch wütend. Er hätte mich nach der Volksschule gern auf einem Krawattenposten bei der Spar- und Darlehens- oder Krankenkasse gesehen, vielleicht sogar, wenn ich mich auf die Hinterbeine stellte, in einem warmen Vorzimmer der Stadtverwaltung.

Leni war das zu wenig. Das Abitur musste her, damit ich Architekt, Rechtsanwalt, Zahnarzt mit eigener Praxis und einem halben Dutzend adretter Helferinnen in strahlend weißer Uniform werden konnte. Nummer 1, nicht Nummer Nullkommanichts!

Enttäuscht, ja verbittert, nahm Vater meine Versetzungszeugnisse und die fehlenden Eiskunstlaufnoten bei Klassenarbeiten zur Kenntnis.

Ich persönlich wäre am liebsten Lebensretter geworden. Unfallopfer wiederbelebt, Nichtschwimmer unter Einsatz des eigenen Lebens eisigen Fluten entrissen, eine fünfköpfige Familie aus ihrem lichterloh brennenden Haus befreit. Hochdekoriert und dabei sympathisch bescheiden geblieben, so die Zeitungen unisono über mich. Leni würde die Artikel ausschneiden, rahmen lassen und im Wohnzimmer aufhängen, und Vater wäre stolz auf mich, auch wenn man es ihm kein bisschen anmerkte.

Leni war von den Mutationen des Atomzeitalters nicht im geringsten betroffen. Ihr Gesicht hätte auf die Titelseite der Revue oder Quick gepasst. Ihre Beine hörten gar nicht auf, so lang waren sie. Vater fehlten zwei, drei Zentimeter an Lenis Größe, dafür war er sieben Jahre älter und seine Muskulatur deutlich ausgeprägter. Die führte er in warmen Monaten im ärmellosen Unterhemd vor. Wenn ihm der Krieg nicht dazwischengekommen wäre, hätte aus ihm mit Sicherheit eine Sportskanone werden können, Ruderer, Gewichtheber, am liebsten Boxer, behauptete er gern. Jetzt nicht direkt ein Max Schmeling, fügte er um Bescheidenheit bemüht hinzu, aber für die Rheinland-Meisterschaft im Halbschwergewicht hätte es immer gereicht. Und mit den Westfalen wär ich auch fertig geworden! Vater ballte die Hände zur Faust, deutete einen Schwinger an, einen Lucky Punch, lächelte wie ein K.o.-Sieger in der ersten Runde.

Mit ihrer Sonnenbrille sah Leni aus wie die Filmschauspielerin Sophia Loren auf dem Plakat, das vor dem Kino in der Oberstadt hing. Aber nicht, um schick auszusehen, trug Leni dunkle Gläser. Sie wollte ihr rechtes Auge nicht zeigen. Das hatte einen dunkelblauen, teilweise ins Rötliche schillernden, geschwollenen Rand. Vater war am Silvesterabend die Hand ausgerutscht.

Versehentlich, wie er seitdem beteuerte.

Seine Nerven waren schon vor dem Ausrutscher durch Lenis Bitte strapaziert worden, eigenes Geld verdienen zu dürfen. Kellnern, Putzstellen oder am Fließband in der Fabrik, irgendwas. Als Leni dann ungefähr eine Stunde, bevor die Feuerwerksraketen in die Luft flogen, in der Quick blätterte und nebenbei sagte, der Schauspieler Curd Jürgens sähe wirklich unverschämt gut aus, hatte Vater endgültig genug. Da war es vorbei gewesen mit Gemütlichkeit, Keller Geister -Perlwein und unbeschwerter Radiomusik, mit Fleischwurst-Schnittkäse-Gewürzgurken-Häppchen, obendrauf der krönende Klecks Mayonnaise. Ehe es überhaupt angefangen hatte, war das neue Jahr eigentlich schon im Mülleimer, über Wupper, Jordan und Styx.

Außer dem immer noch falschen Wetter passierte am Morgen des dritten Januar Folgendes: nichts. Ich hatte Geburtstag, wurde fünfzehn, aber alle taten so, als sei es bloß ein hundsgemeiner Mittwoch.

Mein Tag der Tage war wegen des ungeschickten Datums nie das Fest der Feste gewesen. Nach dem Trubel im Dezember war abgesehen von mir niemand auf Hurra, Apfelkuchen mit Streusel und vor allem Bescherung erpicht. Aber bisher war man, wenn auch lethargisch, seinen elterlichen Pflichten nachgekommen und hatte irgendwas rausgerückt. Preisreduzierte, abgegriffene Nach-Weihnachts-Ware, und seit ich im zweistelligen Alter war, einen Fünfmarkschein. Geld, das mich für eine Stunde zum König machte.

Nun ließen sie mich nicht mal eine Zehntelsekunde regieren. Es gab keinen Schein und schon gar keine Jeans. Weihnachten war ich wenigstens noch vertröstet worden, angeblich hatte es Lieferschwierigkeiten gegeben. Erst hieß es, der wochenlange Streik der schwarzen Baumwollpflücker und Näherinnen in den Südstaaten der USA habe mir die Tour vermasselt, dann wollte man vom Hosenverkäufer gehört haben, das Schiff mit meinem Exemplar an Bord sei in einen Sturm geraten und südlich von Portugal gesunken. Stoff für einen Abenteuerroman. Wenn meine Rabeneltern so weitermachten, wurden sie noch zu heißen Anwärtern auf den Literatur-Nobelpreis.

Aber an diesem dritten Januar bemühten sie sich nicht mal um eine Ausrede.

Beim Frisör hatte ich in einer Illustrierten ein Foto von Marlon Brando gesehen, auf dem er ein weißes T-Shirt und Blue Jeans trug. Sich so in der Öffentlichkeit zu präsentieren, sei ein Unding höchsten Ausmaßes, stand empört und fettgedruckt darunter. Ich riss die Seite heimlich raus. Seitdem hing der skandalös gekleidete Schauspieler neben meinem Bett. Vater regte sich auf, stellte mir eine Frist, die er dann vergaß.

Leni küsste mich auf die Stirn, strich mir übers Haar. Sie versprach, einen Kuchen zu backen. Das Versprechen war eher eine Drohung. Leni hatte kein Händchen für die Konditorei, sie stand mit Hefe, Mehl und der richtigen Menge Zucker auf Kriegsfuß.

Abends zuvor hatte sich Vater bereits alle Mühe gegeben, mir sämtliche Geburtstagsflausen auszutreiben. Er erinnerte sich laut daran, wie er mit fünfzehn in der Fabrik schuften musste, 48-Stunden-Woche, Minimum.

Von wegen Gymnasium mit Gaius Julius, Sinus und Kosinus! Schläge und Tritte vom Vorarbeiter hatte es zum Geburtstag gegeben. Und nun war in der Firma die Krise ausgebrochen, obwohl sich alle krummgelegt und auf Lohnerhöhung verzichtet hatten. Entlassungen drohten, mickriges Stempelgeld. Die Zeit der großen Sprünge: vorbei.

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