Kaum hatte Jenniges den Klassenraum betreten, fühlte man sich ertappt und schuldig. Er schloss die Tür ab, steckte den Schlüssel ein. Es gab kein Entkommen mehr.
Jenniges hatte allen außer mir die Ferien versaut. Damit uns die Langeweile nicht folterte, so der Lehrer mit scheinbar gutmütigem Lächeln am letzten Schultag vor Weihnachten, sollten wir Die Bürgschaft von Friedrich Schiller auswendig lernen. Zwanzig Strophen mit je sieben Zeilen. Unbesorgt hatte ich mich statt in die Ballade in den reich bebilderten Neckermann-Katalog vertieft, vor allem in das Kapitel Damenunterwäsche.
Wir waren aufgesprungen, standen militärisch gerade. Bauch rein, Brust raus, Hände an die Hosennaht. Der Oberstudienrat fackelte nicht lange.
»Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp? Freiwillige vor!«
Die Streber meldeten sich, wurden aber übersehen. Jenniges wiederholte seinen Aufruf, lauter, drohender diesmal. Es roch nach dem nassen Leder der Schultaschen. Das Klassenzimmer war schlecht gelüftet, überheizt. Auf dem Fußboden Schneepfützen. Fünf nach acht, draußen war es noch dunkel. Der Lehrer strich über seinen grauen Kinnbart, lächelte sein Raubtierlächeln. Neben mir stöhnte Havenstein leise, wankte. Ich sah, wie er sich einen Pickel blutig kratzte, wie er dann seine zitternden Hände wieder an die Hosennaht presste. Seitdem er in einem Aufsatz es schnitt statt es schneite geschrieben hatte, konnte er sich Jenniges’ besonderer Beobachtung sicher sein. Regelmäßig haute der Lehrer Havenstein das Winterfiasko um die Ohren.
Trauriger Haufen, mein lieber Kokoschinski!
Jenniges’ aufgerissene, blitzende Augen. Unsere Blicke trafen sich nur ganz kurz, aber das reichte. Die alte Angst war wieder da. Vielleicht hatte er über die Feiertage noch einmal über das Ereignis am Aschermittwoch nachgedacht und sich alles verziehen. Vorbei der schöne Lenz, die ruhige Kugel.
Ich hatte die Schulmesse geschwänzt. Freistunde, hatte ich am Abend vorher zu Leni gesagt und mich ausgeschlafen. Mir lag daran, möglichst wenig mit Religion in Kontakt zu kommen, weil ich nicht ständig daran erinnert werden wollte, dass Gott alles sah. Das fand ich noch viel gemeiner als meine Sterblichkeit, von der auch immer die Rede war.
Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist waren vierundzwanzig Stunden am Tag mit nichts anderem beschäftigt, als mich und den Rest der Menschheit zu observieren, auf Schritt und Fehltritt; auf dem Klo und bei Schlimmerem schauten sie einem penibel auf die Finger. Pastor und Oberstudienrat Pip behauptete sogar, auch unsere lieben Verstorbenen, sofern sie im Himmel Aufnahme gefunden hatten, würden schlaflos über uns wachen. Es war verflucht deprimierend, gruselig, peinlich hoch zwanzig, sich vorzustellen, dass die Opas Heinrich und Ludwig, Oma Käthe und Tante Karla, die mich sowieso zeitlebens nicht ausstehen konnte, alle meine Geheimnisse kannten.
Ich schlich an der Hausmeisterloge vorbei die Treppen zur zweiten Etage hoch. Es fühlte sich unheimlich an, allein in der Klasse zu sein. Ich öffnete ein Fenster, beugte mich vor, schaute auf den noch leeren Schulhof herunter. Ich überlegte, eine Zigarette auf dem Klo zu rauchen, entschied mich dann aber für die frische Luft. Kein Gesang wehte vom Musiksaal herüber, keine laut deklinierenden Sextaner, weder Trillerpfeife noch Getrampel aus der Turnhalle. In ein paar Minuten würde die Herde der Gottesdienstbesucher auftauchen, angeführt von Religionslehrer Pip.
Nach einem letzten Zug blies ich den Rauch aus, wollte die Kippe auf der Fensterbank ausdrücken, da verlor ich den Boden unter den Füßen.
Ich pendelte neun oder zehn Meter über dem ausbesserungsbedürftigen Teerbelag des Schulhofs. Jemand hatte mich gepackt und mit großer Kraft aus dem Fenster geschoben. Noch wurde ich an den Fesseln gehalten, aber man drohte, mich gleich fallen zu lassen, um mir ein für allemal das Rauchen und Schwänzen der Schulmesse abzugewöhnen.
Unbeholfene Schwimmbewegungen ins Leere. Abwechselnd das Gefühl, auf einer stark schwankenden Drehscheibe und in einem abstürzenden Aufzug zu sein. Ich versuchte zu schreien, brachte aber nur missratene Lalltöne zustande. Es gab einen Ruck. Der Angreifer teilte mir mit, er halte mich jetzt nur noch mit einer Hand fest.
Dass ich mir in die Hose gepisst hatte, war das erste, was mir auffiel, nachdem es vorbei war. Jenniges sagte, ich würde von der Schule fliegen und in einer Erziehungsanstalt landen, wenn meine Raucherei und Gottlosigkeit herauskämen. Dass man mir in der Anstalt die Flötentöne beibringen, mit mir Schlitten fahren würde. Dass sie dort einen Menschen aus mir machen würden.
Ich hockte auf dem Boden, keuchte und zitterte, dazu eine Inflation von Tränen und Rotz. Jenniges sagte, ich solle mich gefälligst zusammenreißen, mich nicht gehen lassen wie ein Mädchen. Er nannte mich Pissnelda. Anna. Sabine. Susanne. Gisela. Adelheid.
Matthias, sagte ich ohne Stimme.
Erika. Waltraud. Johanna.
Angewidert wies der Lehrer mich auf meine blutende Oberlippe hin. Im Weggehen forderte er mich auf, mich in Zukunft zu benehmen. Dann werde er möglicherweise Gnade vor Recht, Milde walten lassen, Direktor und Oberschulrat nicht informieren.
Hast du mich verstanden? Ob du mich ver-stan-den hast?
Als die anderen kamen, sahen sie mich an wie ein übrig gebliebenes Karnevalsgespenst. Ich zog meinen Pullover über die große nasse Stelle, schlug die Beine übereinander.
Wenn ich dachte, für diesen Tag sei es genug mit Angst und Schrecken, hatte ich mich geschnitten. Pastor Pip platzte in die Mathestunde herein, um jeden Schüler in Augenschein zu nehmen. Alle aufstehen! Wer im Gottesdienst gewesen war, konnte ein schwarzes Aschenkreuz auf der Stirn vorweisen, von Pip eigenhändig gezeichnet, zur Erinnerung an unsere Sterblichkeit.
Als ich an der Reihe war, nahm der Geistliche seine dicke Hornbrille ab und betrachtete mich wie eine Mutation im Atomzeitalter.
Hab es versehentlich abgewischt, hörte ich mich sagen.
Aha, ein Sauberkeitsfanatiker, antwortete Pip.
Die Ohrfeigen, die er mir verpasste, gerecht auf beide Gesichtshälften verteilt, hatten sich gewaschen, und zwar gründlich.
Jenniges ging mit einem kurzen Zeigestock durch die Reihen. Dass er ein künstliches Bein hatte, merkte man ihm so gut wie nicht an. Das richtige Bein war in Russland geblieben, hatten wir gehört.
Wir standen immer noch wie Rekruten. Draußen wurde es allmählich hell.
Es schneite. Die Heizung pochte auf Hochtouren, und die Zeit gab sich alle Mühe, nicht zu vergehen. Jenniges zitierte mit weicher Stimme die beiden ersten Zeilen der Bürgschaft :
Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Möros, den Dolch im Gewande .
Der Oberstudienrat fuchtelte mit dem Zeigestock herum wie mit einem Dolch. Das sah komisch aus, aber niemand lachte. Obwohl meine Kopfhaut juckte, wagte ich nicht, mich zu kratzen, denn wenn die Schonzeit vorbei war, würde Jenniges die falsche Bewegung zum Anlass nehmen, mich nach vorn zu rufen, damit ich mit dem Rücken zur Tafel das Gedicht aufsagte. Meine Faulheit würde auffliegen und auch mein Nikotinatem. Nach der Morgenzigarette hatte ich das Pfefferminzbonbon vergessen, und Jenniges rückte einem Prüfling gern auf die Pelle. Havenstein schwitzte vom bloßen Rumstehen. In meiner Nase kribbelte es. Wenn ich jetzt nieste, war ich erledigt.
Tauchstation!, flüsterte Jenniges laut.
Alle durften noch einmal tief einatmen und mussten dann die Luft anhalten. Wer – nach Ansicht des Lehrers – als erster aufgab, es nicht mehr aushalten konnte, zu ersticken glaubte, hatte und war verloren, wenn er Die Bürgschaft nicht vortrug wie Schiller höchstpersönlich.
Havenstein sagte die Ballade auf wie Max ohne Moritz, wie Dick mit einer Extraportion Doof.
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