Er habe sich in jämmerlichster Weise an großer Kunst vergriffen, sie mit Verachtung gestraft und geschändet, lautete Jenniges’ Fazit nach dem Vortrag. Dafür müsse er, Havenstein, büßen: entweder Die Bürgschaft bis zum nächsten Tag fünfmal abschreiben oder Tinte saufen; blaue, schwarze oder rote, freie Auswahl. Der Oberstudienrat öffnete seine Lehrertasche, kramte darin herum, bis nach und nach drei Tintenfässer ordentlich sortiert auf seinem Pult standen.
Nun?
Havenstein stand ergeben da und dachte nach. Jenniges entfernte ein Stäubchen von seiner Jacke, blies es kunstvoll davon, verschob geduldig die Position der Fässchen; mal stand das rote ganz links, dann das schwarze, dann das blaue. Ach, sagte der Lehrer und gestand, seine Lesebrille auf dem Beifahrersitz seines Wagens vergessen zu haben. Ob jemand mal so freundlich? Nicht nur die Hände der Streber flogen in die Höhe.
Jenniges spazierte, während Havenstein überlegte und überlegte, in der Klasse herum, scheinbar unschlüssig, welchen Freiwilligen er auswählen solle. Ich erschrak, als ich seine Hand auf meiner Schulter spürte.
Matthes, wie wär’s mit dir?
Ich hatte mich nicht gemeldet. Jenniges hatte mich noch nie mit Vornamen angesprochen. Das war das Privileg der Aufsatzhelden, Vortragskünstler und Grammatik-Asse. Und, unfassbar, er hatte nicht das eigentlich angebrachte Matthias verwendet, sondern mich rheinisch Matthes genannt, als stehe er mir nahe, als verbinde uns etwas Freundschaftliches, Herzliches. Während er den Fahrzeugschlüssel aus seinem Schlüsselbund löste, fragte er mich, ob ich seinen Wagen kenne.
Jeder kannte den. Ein Mercedes mit Goldbronze-Lackierung. So eine Karre gab es kein zweites Mal weit und breit. Ein Schlitten für Playboys und Filmschauspieler. Für den Schah von Persien, den Ölscheich von Saudi-Arabien. Alle anderen Autos auf dem Lehrerparkplatz wirkten dagegen armselig und farblos, auch wenn sie rot oder blau waren.
Mein Herz schlug schnell, als ich den Wagen aufschloss, den Leder- und Rasierwassergeruch einatmete. Obwohl ich nur den Willen des Besitzers ausführte, kam ich mir wie ein Einbrecher vor.
Havenstein hatte sich gewaltig geschnitten, wenn er dachte, dass es für diesen Tag genug sei. Zwar wurde ihm in der nächsten Stunde ausreichend Gelegenheit geboten, mal durchzuatmen, sich zurückzulehnen, die eklige Tinte in Ruhe zu verdauen, aber erholsam war diese Ruhephase sicher nicht für ihn.
Diplomsportlehrer Sandor Tóth, ausgesprochen Schandor Tott, die falsche Aussprache seines Nachnamens (Herr Tot) wurde mit speziellen Quälereien an Barren und Seitpferd geahndet, musste sich wegen seines starken Bartwuchses bestimmt dreimal am Tag rasieren. Auch seine Arme und Beine waren von dichtem schwarzen Pelz befallen. Darüber hinaus verstand er keinen Spaß, wenn man die Sportsachen, weiße Turnschuhe, rote Turnhose, vergessen hatte. Tóth war vor den Kommunisten in Ungarn geflüchtet, hatte aber deren erlesene Bosheiten in die freie Welt unseres Gymnasiums mitgenommen.
Der vergessliche Havenstein mit seinen tintenschwarzen Lippen musste auf einem Stuhl in der Mitte der Halle Platz nehmen. Tóth forderte ihn auf, es sich gemütlich zu machen, sich zu entspannen und das folgende Schauspiel zu genießen.
Statt Ballspielen standen dank Havenstein gymnastische Torturen auf dem Programm, von Tóth beschönigend Aufwärmtraining genannt. Hochgeschwindigkeits-Tiefgehen, Klimmzüge en masse, Rollen vor- und rückwärts auf dem harten Hallenboden. Dazu mussten wir Tóths Lieblingslied brüllen. Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord . Hochrot oder leichenblass verschwitzt, je nach Temperament, umkreisten wir Havenstein im schnellen Kriechgang, robbten, torkelten an ihm vorbei, angetrieben von Tóths unablässigem Getriller. In den Kesseln, da faulte das Wasser, und täglich ging einer über Bord . Havenstein versuchte abzuhauen. Wir fingen ihn auf Befehl ein, stießen ihn grob zurück auf seinen Thron. Liegestutz, kommandierte der Ungar in seinem eigenen Deutsch. Funfzisch Stuck! Nock eins un nock eins! Durch Zurufe, Blicke und Handzeichen gaben wir Havenstein zu verstehen, auf welche Arten der Hinrichtung er sich bei Beginn der großen Pause ganz besonders freuen konnte.
Vater schwor, Leni nie wieder etwas anzutun. Eher würde er sich die eine Hand mit der Axt abhacken, die andere unter die Kreissäge legen. Zum ersten Mal sah ich ihn weinen.
Leni trug keine Sonnenbrille mehr, ihr blaues Auge, ihr Veilchen, war verblasst. Schniefend fütterte Vater den Ofen im Wohnzimmer mit Kohlen und Briketts. Das Radio spielte Sonntagsschlager und meldete die Halbzeitergebnisse der Fußball-Oberliga West. Meiderich führte vier zu null gegen Marl-Hüls. Ich wusste, dass der Titicacasee in Südamerika lag. Der westliche Teil des Sees gehörte zu Peru, der östliche zu Bolivien. Meiderich und Marl-Hüls hatten wir in Erdkunde nicht durchgenommen. Auch Hamborn und Sodingen nicht. Der Zwischenstand dieser Paarung lag noch nicht vor, der Radiosprecher bat um Verständnis.
Leni tröstete Vater mit Küssen und Worten. Alles vergessen, kann doch jedem mal passieren. Es war ja auch mein Fehler. Du siehst doch tausendmal besser aus als der Curd Jürgens!
Den Namen will ich hier nie mehr hören!, antwortete Vater, fast schon wieder ein wenig bedrohlich. Aber dann zauberte er ein Geschenk nach dem anderen herbei. Zehn rote Rosen. Pralinen, eine Flasche Sekt. Neuen Christbaumschmuck. Und sogar an mich hatte er gedacht, aber nicht an meine Jeans. Er machte mich zum Besitzer eines Schweizer Messers. Stolz, als hätte er es erfunden, demonstrierte er nacheinander die eingebauten Werkzeuge: Klinge, Dosenöffner, Korkenzieher, Schere, Feile, Nagelreiniger und Pinzette. Kaum hatte er mir das Wunderwerk in die Hand gedrückt, sah ich die Gebrauchsspuren. Ein Fundstück. Oder für den Preis eines gebrauchten Taschentuchs gekauft.
Neue Sektgläser hatte der Zauberer nicht im Programm, die waren immer noch Mangelware. Silvester war nicht nur der Weihnachtsbaum aus dem Fenster geflogen.
Leni schmeckte der Sekt auch aus einem Wasserglas. Es dauerte nicht lange, und sie hatte rote Wangen, wurde plapperig. Wie gut es uns gehe, und dass sie noch nie im Leben so schöne Rosen gesehen habe. Sie schaltete die Wohnzimmerleuchte aus, forderte Vater auf, mit ihr zur Radiomusik zu tanzen.
Schatten an den schrägen Wänden des Zimmers. Meine Eltern tanzten eng und verträumt. Vater turtelte, flirtete mit der eigenen Frau. Ich nutzte die Gelegenheit und trank Sekt aus der Flasche. Das machen nur die Beine von Dolores , sang der Sänger. Ich dachte an die langen Beine im Neckermann-Katalog. Vater fasste Leni an den Po. Zischen im Ofen, Poltern und das Geräusch von splitterndem Glas in der Wohnung über uns. Der sonst lautlose Holtschmidt störte kurz die Sonntagsruhe.
Er wohnte seit einem Jahr im Haus, trug meistens eine Aktentasche bei sich und sonst vorwiegend Beige. Er grüßte knapp, wenn überhaupt, und hüllte sich darüber hinaus in Schweigen. Der abgenutzte Motor seines Opels weckte morgens um halb sechs die ganze Straße. Jupp wollte beim Frühschoppen in Addis Pilseck gehört haben, der Mitbewohner sei, was auch immer das war: Chemielaborant. Mehr wusste keiner über ihn. Selbst Grete, die sonst alles rauskriegte, stand vor einem Rätsel. Komischer Heini, wenn der mal kein Spion für den Osten ist.
Der Sekt perlte in meinem Bauch und in meinem Kopf. Erst, als Nachrichten gesendet wurden, hörte die Tanzerei auf. Du wirst von Tag zu Tag jünger und schöner, mein Schatz, sagte Vater und liebäugelte leidenschaftlich. Ich bin verrückt nach dir wie am ersten Tag. Hab dich gar nicht verdient. Überhaupt nicht.
Ich hatte genug von seinem Geschwätz und machte mich auf den Weg zu meinem Grönlandzimmer. Dort gab es keinen Ofen, da blühten die Eisblumen von November bis Ende März.
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