1 ...6 7 8 10 11 12 ...31 Eine diskrete Anthropologie reagiert somit mit ihrer zurückhaltenden Beantwortung der Frage nach dem Menschen auf die Verlegenheit, dass niemand von uns auf Anhieb zu sagen vermag, was es mit dem Menschen auf sich hat, obwohl jeder von uns einer ist. Alle Anthropologie geht somit von einem befremdlichen Befund aus: »So paradox es klingt: obwohl wir Menschen sind, wissen wir nur ganz ungenau, was ›das Menschliche‹ ist.« 61Gerade der Mangel an Eindeutigkeit verlangt nun nach umwegigen Formen der Auskunft. Blumenbergs diskrete Anthropologie scheut daher jene starken Thesen, die sie von anderen referiert und in ihrer Gegenüberstellung relativiert. In der Beschreibung des Menschen listet er an die fünfzig verschiedene Annäherungen an Definitionen des Menschen auf, um eben die sich damit ausdrückende Verlegenheit zu dokumentieren, dass der Mensch nicht auf einen Begriff gebracht werden kann. 62
Wie schon Blumenbergs Zettelkasten eine Materialisierung der Notwendigkeit einer Philosophie der Umwege darstellt, steht auch seine Anthropologie für ein Abschreiten der vielen Denkwege, um sich – am bedachten Gegenstand entäußernd, doch diskret – darüber zu vergewissern, was es mit dem Menschen auf sich hat. Paradox formuliert sucht die diskrete Anthropologie den Menschen in den Blick zu nehmen, indem sie ihn – zumindest zunächst – nicht zum Thema macht: »Je allgemeiner der Gegenstand ist, von dem wir sprechen«, und mit dem Menschsein ist etwas Allgemeines erfragt, »um so weniger vollziehen wir dieses Sprechen dadurch, daß wir den Gegenstand selbst im Blick zu behalten suchen, im Gegenteil: vom Allgemeinen spricht es sich am besten, indem man von ihm absieht.« 63So fragen Blumenbergs groß angelegte Relektüren der gedachten Welt expressis verbis nach dem Wandel der epochalen Wirklichkeitsverhältnisse – beiläufig hat in ihnen eine jeweilige Welt- und Selbstinterpretation des Menschen ihre mitunter nicht eigens artikulierte Gestalt gefunden. Seine Bücher handeln vom Mythos und von der Kosmologie, von der Allmacht Gottes und der Lesbarkeit der Welt, sie reflektieren die Möglichkeit einer Philosophie der Geschichte, fragen nach der Leistung des Begriffs und der Notwendigkeit der Metapher. Doch in all dem ist der Mensch stets mit erfragt. Es käme daher einer Fehleinschätzung gleich, die Beschreibung des Menschen als Blumenbergs monographisch verdichtete Anthropologie neben die thematisch anders gelagerten Bücher zu stellen. Sie ist nur der ausdrücklichste Beleg einer im gesamten Werk im Hintergrund wirksamen anthropologischen Ausrichtung.
Für diese inwendige Perspektivenausrichtung gibt es bedeutsame Selbstauskünfte Blumenbergs. Auf die Frage, was Philosophie zu leisten habe, hat er geantwortet, sie sei im Kern »nichts anderes als werdendes Selbstbewußtsein des Menschen«. 64Die innerdisziplinären Ausprägungen der Philosophie finden für ihn ihren inneren Zusammenhalt in dem Versuch einer humanen Selbstverständigung: »Ob Philosophie wesentlich als Geschichte des Geistes, als Theorie der Erkenntnis, als Anthropologie, Ethik, Ontologie oder gar als formale Logik auftritt und verstanden wird – dies alles sind im Grunde nur Spielarten des einen Willens zu dieser einen Sache: zur Sprache zu bringen, was menschlich ist und was sich im Menschlichen zeigt.« 65Blumenberg hat den anthropologischen Fluchtpunkt seines Philosophieverständnisses wiederholt herausgestellt: »Die Aufgabe, die der Philosophie im Verband der Wissenschaften zufällt, läßt sich auf ihre Funktion im geistigen Haushalt des Menschen überhaupt zurückführen. Die zahllosen Definitionen, die für die Leistung der Philosophie in ihrer Geschichte gegeben worden sind, haben ihren Kern in einer Grundformel: Philosophie ist werdendes Bewußtsein des Menschen von sich selbst.« 66Ganz gleich also, wovon die Philosophie handelt, stets handelt sie auch vom Menschen. Noch in der Hinwendung zu Gegenständen, die außerhalb des Radius einer Anthropologie zu liegen scheinen – Atome etwa oder Sterne –, kommt der Mensch mit in den Blick: »Der Mensch begreift sich nur über das, was er nicht ist, hinweg.« 67Oder anders gewendet: »Nichts, was uns die Welt zu verstehen hilft, kann vergeblich sein, unsere Welt zu verstehen.« 68Insofern besitzen alle Formen wissenschaftlicher Theorie für ihn eine latente Ausrichtung auf den Menschen: »Die Beliebigkeit des Gegenständlichen, die so weithin den ausgebildeten und spezialisierten wissenschaftlichen Betrieb kennzeichnet, darf nicht verdecken, daß alles wissenschaftliche Forschen in einer originären Bedeutsamkeit für das menschliche Dasein wurzelt«, 69schreibt Blumenberg schon in seiner Habilitationsschrift aus dem Jahr 1950.
Den Menschen als Fluchtpunkt der humanen Neugierde an der Welt anzusehen, trotz der disziplinären Ausdifferenzierung dieses Interesses, macht einen Grundzug der Moderne aus. »The proper study of mankind is Man«, 70postulierte Alexander Pope in seinem zuerst 1733 erschienenen Essay on Man . Dem Einzelnen stehe es offen, sich mit dem zu beschäftigen, was ihn anziehe, heißt es in Goethes Wahlverwandtschaften , »aber das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch«. 71Und Ernst Cassirer sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, sein Interesse an psychologischen, ontologischen und epistemologischen Fragen, an Mythos und Religion, Sprache, Kunst, Naturwissenschaft und Geschichte ergebe nichts als eine zusammengewürfelte Ansammlung aus disparaten und heterogenen Elementen. Er hielt dem entgegen, alle erwogenen Themen bildeten »letzten Endes ein einziges Thema«, sie seien »verschiedene Straßen, die zu einem gemeinsamen Mittelpunkt führen«. 72Um diesen Mittelpunkt zu bestimmen, hat Cassirer eine Philosophie der Kultur auf den Weg gebracht, in deren Zentrum der Mensch steht.
Blumenberg zeichnet daher in großen Bögen Bewusstseinsgeschichten nach, die der diskreten Anthropologie zuarbeiten. Als ein Stück historische Anthropologie sucht er gewesene Bedeutsamkeitshorizonte des Menschen zu sichern, da für ihn die moderne Einsicht in die Historizität jedes humanen Wirklichkeitsverständnisses unhintergehbar ist. Zugleich ist diese Anthropologie eine unfertige, also eine sich noch im Werden befindliche, da wir erst wissen werden, was der Mensch ist, wenn er alles gewesen sein wird, was zu sein er in der Lage war.
In der Art einer Bedeutungsarchäologie widmet sich Blumenbergs diskrete Anthropologie den Bewusstseinsschichtungen: Wie eine einzelne Person nicht einfach Erinnerungen hat , sondern ihre Erinnerungen ist , so ist auch der kulturierte Mensch – und einen anderen gibt es nicht – eingebettet in Bewusstseinsgeschichten, »in Geschichten verstrickt«, 73wie es bei Wilhelm Schapp heißt. Eine diskrete Anthropologie ist schon ihrer Konzeption nach spezifisch modern, ist doch die Neuzeit eine »Epoche des Bewußtseins« 74– um jede Spur eines Hegelianismus und mit ihm die Erwartung teleologischer Entwicklungen zu vermeiden, spricht Blumenberg von ›Bewusstsein‹ und nicht von ›Geist‹. Blumenbergs Philosophie will herausstellen und, wo nötig, zur Ausdrücklichkeit bringen, was in den Sedimenten der Bewusstseinsgeschichte des Menschen markant oder oftmals bis zur unkenntlichen Selbstverständlichkeit eingelagert ist.
Eine diskrete Anthropologie der vielen Denkwege ist letztlich von einem »geschichtlichen Respekt vor der Gleichrangigkeit der menschlichen Selbsthilfen im Weltverständnis« 75getragen. Kaum etwas hat Blumenberg mehr verachtet als die »Mediatisierung der Vergangenheit für die Gegenwart, für eine Gegenwart, für deren Relevanzforderungen, ihre Aktualitätsmaße, die nur das auf diese Gegenwart Durchschlagende gelten lassen«. 76Was er als die Geschichte der Bewusstwerdung des Menschen nachzuzeichnen sucht, setzt auf eine nacherzählbare Kontinuität, für die man keinen Fortschrittsglauben unterstellen muss. Jedes für uns lesbare Dokument aus den Tiefen der Geschichte des Menschen, wie auch jedes von uns der Nachwelt vermachte Zeugnis unserer selbst, beglaubigt die nicht korrumpierbare Verwandtschaft aller Menschen vor der Aufgabe der Selbsterhaltung. In dem Titel seines 1981 erschienenen Aufsatzbändchens Wirklichkeiten in denen wir leben hat Blumenberg das leicht übersehbar zum Ausdruck gebracht: Denn es sind ›wir‹, die in Wirklichkeiten leben. Manfred Sommer hat darauf hingewiesen, mit diesem ›wir‹ seien keinesfalls allein die Gegenwärtigen gemeint, verdanke sich doch das, was unser Leben ausmacht, in unaufhebbarer Weise unseren Vorfahren; doch auch die, die noch kommen, gehören zu diesem ›wir‹. 77
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