Über diese punktuell aufblitzenden Nachwirkungen seiner frühen Empfänglichkeit für die Fragilität des Menschen hinaus gibt es einen späten Beleg für die lebenslange Prägung durch die Lektüre Nansens. 1993, hundert Jahre nach dem Aufbruch der Expedition zum Nordpol, gedachte Blumenberg dieses Abenteuers und unausdrücklich seiner eigenen frühen Lektüre in einem Zeitungsartikel unter dem Titel »Vorstoss ins ewige Schweigen«. Darin erinnert er eben an jenes Schweigen der Eiswelt, »das Nansen drei Jahre lang wie im Nichts der Ungewissheit hatte verschwinden lassen«. 18
Blumenbergs Blick zurück auf Nansen verbietet sich jede Nostalgie. Mit wenigen Strichen wird die zeitgeschichtliche Distanz markiert und somit Nansens Erfahrungswelt als Teil des untergegangenen späten 19. Jahrhunderts situiert. Die Melancholie des Polarforschers wird eingebettet in die zeitüblichen Reflexionen über die entdeckte Endlichkeit der Dauer der Strahlkraft der Sonne als Bedingung des Lebens. Seit dieser Einsicht habe ein »düsteres emotionales Moment … über dem menschlichen Selbstverständnis« 19gelegen. Nansens »eschatologische Banalitäten« 20sind für Blumenberg eher Zeit- als Wissenschaftsgeschichte. Überhaupt sei dessen Nachdenken während der Eisdrift der Fram »nicht originell für dieses Jahrzehnt; nur hebt es sich vom zumeist in bildender Absicht Geschriebenen dadurch ab, dass es nicht bloss aus dem Wissensertrag des Jahrhunderts hervorgeht, Wissenschaft zu Wissen verbreiternd, sondern aus der Anschauung des gerade überlebten ersten Polarwinters auf oder in der ›Fram‹«. 21
Das Grundmotiv, das Blumenberg in seiner Erinnerung an den Polarforscher schon im Titel seines Artikels hervorhebt, ist aber nicht in erster Linie die Kälte, das Eis oder die Finsternis, sondern etwas, von dem Nansen wiederholt berichtet, ohne es ins Zentrum gestellt zu haben: das Schweigen der Eiswelt. »Alles ist so seltsam still und ausgestorben«, 22heißt es bei ihm. Durch die Akzentuierung dieser Erfahrung akustischer Entbehrungen wird Nansen assoziativ in einer geistesgeschichtlichen Linie verortbar: Pascal hatte davon gesprochen, das ewige Schweigen der kosmischen Räume mache ihn schaudern, 23Camus hat das Absurde beschrieben als den »Zusammenstoß zwischen dem Ruf des Menschen und dem vernunftlosen Schweigen der Welt«, 24und Blumenberg schließlich hat auch festgestellt, die wissenschaftlich verobjektivierte Welt sei »stumm geworden auf die Frage, welche Stellung der Mensch in ihr einnimmt«. 25
Damit ist ein erstes Leitmotiv für Blumenbergs diskrete Anthropologie gewonnen: Der Mensch ist in einer ihm nicht gewogenen Wirklichkeit ein Sonderwesen. Gegen den Absolutismus dieser sinnwidrigen Welt hat er sich zu behaupten. So sehr Blumenberg die weltanschauliche Tönung des 19. Jahrhunderts zu kritisieren wusste, so vertraut ist sie ihm doch auch geblieben. »Nicht nur, weil er Abenteuer der Grenzdurchbrüche wie die Driftfahrt der ›Fram‹ sucht, ist der Mensch ein riskantes Wesen. Er ist es schon kraft seiner biologischen Herkunft aus der schmalen Zone der letzten Zwischeneiszeit, aus der harten Schule zwischen den Eisrändern vorrückender Gletschermassen der im Wechsel ihres Vorrückens und Zurückgehens sich mühselig heranziehenden und behauptenden Lebenstüchtigkeit: das Naturwesen gegen die Natur …« 26Der Mensch ist das Wesen, das sich auf Zeit seine kulturellen Oasen zu erhalten vermag, um über Zonen des Überlebens zu verfügen.
Die Erfahrung der Fragilität und Vergänglichkeit des schützenden Raumes hatte Blumenberg schon als junger Mensch machen müssen. Er hatte Nansens In Nacht und Eis als Neunjähriger im Herrenzimmer seiner Lieblingstante auf dem Fußboden liegend verschlungen. »Zwölf Jahre später gab es das Zimmer, die Tante und den Nansen nicht mehr.« 27
Tradition und Ursprünglichkeit
In der Nacht vom 28. auf den 29. März 1942 wurde Lübeck durch Einheiten der britischen Luftwaffe über mehrere Stunden bombardiert. Es war das erste Flächenbombardement einer deutschen Stadt im Zweiten Weltkrieg. Die Folgen waren verheerend. Hunderte Tote und Verletzte waren zu beklagen, Tausende Lübecker wurden obdachlos. Ganze Straßenzüge der Altstadt brannten aus, auch die Marienkirche wurde schwer getroffen, vom Buddenbrookhaus in der Mengstraße 4 standen nur noch die Fassade und Seitenmauern. Thomas Mann zeigte sich aus dem fernen Amerika betroffen: »Das geht mich an, es ist meine Vaterstadt.« Aber er sah eine Logik des Ausgleichs am Werk, nach der »alles bezahlt werden muß«. So schlimm die Zerstörungen auch sein mochten, waren sie nicht gerecht? »Hat Deutschland geglaubt, es werde für die Untaten, die sein Vorsprung in der Barbarei ihm gestattete, niemals zu zahlen haben?« Er rettete sich auf seine Weise in eine Zukunft, die der Zerstörung der Barbarei folgen mochte, indem er konstatierte, »solche Trümmer schrecken nicht denjenigen, der nicht nur aus der Sympathie für die Vergangenheit, sondern auch aus der für die Zukunft lebt. Der Untergang eines Zeitalters braucht nicht der Untergang dessen zu sein, der in ihm wurzelt und der ihm entwuchs, indem er es schildert.« 28Im Zuge der britischen Luftangriffe, die das Ziel hatten, das Nazi-Regime in die Knie zu zwingen, versank auch das Elternhaus von Hans Blumenberg in Schutt und Asche. Im späten Rückblick hat er bekannt, dass er – seiner Geburtsstadt zeit seines Lebens tief verbunden – »den Untergang Lübecks in der Palmsonntagnacht 1942 in der Innenstadt ›erlebt‹ habe« und dass ihm »das Fanal der Wendung des Krieges damals wichtiger war als das vermeintlich endgültige Verstummen der Lübecker Orgeln«. 29Es ging um Rettung, nicht um Bewahrung. Der spätere Philosoph wusste aus eigener Anschauung, was ›Destruktion‹ gewachsener Tradition bedeuten kann und warum sie mitunter notwendig ist.
Eine jüngere Generation, die Blumenberg nie im akademischen Umfeld erlebt hat, kennt die Scheu nicht, näher auf seine frühen biographischen Umstände einzugehen. Blumenberg selbst ist diskret mit seinen Erfahrungen während des Dritten Reichs umgegangen – als man noch bei ihm studieren konnte, wusste man darüber nur Ungefähres, und das reichte einem. Er hat einmal von der »Unziemlichkeit der Neugierde der Epigonen« gesprochen, »die uns mit einer Wendung des Blicks konfrontiert, die vielleicht nur privatim erlaubt ist«. 30Ein philosophisches Portrait, das kein biographisches zu sein unternimmt, hat gegenüber den privaten Lebensumständen Zurückhaltung zu üben.
Dennoch gehe ich mit einer knappen Skizze auf die Lebensanfänge Blumenbergs ein, aus drei Gründen. Zum einen sind die Erfahrungen, denen er ausgesetzt war, nicht nur privat und somit intim. Blumenberg teilte die Erlebnisse von Krieg und Verfolgung mit vielen anderen seiner Generation, wenn auch jeder sie von einer anderen Warte aus erfahren hat: Hannah Arendt etwa, Dolf Sternberger, Jürgen Habermas oder Johann Baptist Metz. Der prägende Eindruck dessen, was man aller Dramatik entkleidet die ›geschichtliche Situation‹ nennen darf, hatte nicht nur individuelle, sondern eben eine generationenübergreifende Kraft.
Zum anderen hat Blumenberg selbst immer wieder in seinen Publikationen einzelne Bemerkungen im Zusammenhang mit der »größten bisherigen Sinnkatastrophe der Geschichte« 31fallen lassen. So etwa, als er im Fragebogen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Landung der Alliierten in der Normandie 1944 als die militärische Leistung benannte, die er bewundere; oder als er in einem Zeitungsartikel über Heideggers Verstrickung in den Nationalsozialismus auf sein eigenes Versteck in Lübeck zu sprechen gekommen ist, das ihm das Überleben sicherte. 32Über derartig eingestreute biographische Auskünfte hinaus finden sich auch ausdrücklichere Auseinandersetzungen mit den geschichtlichen Hintergründen seines Lebens: Ein zentrales Kapitel aus Lebenszeit und Weltzeit ist Hitler gewidmet, und Arbeit am Mythos enthält eine implizite Auseinandersetzung mit Carl Schmitt. Noch allgemeiner gewendet, merkt man der Philosophie Blumenbergs an, welche Erfahrungen ihr in den Knochen steckt. »Der Fliehende spürt im Rücken, was ihm nachsetzt«, 33heißt es einmal.
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