1 ...6 7 8 10 11 12 ...44 Albert, wie aus einem Hinterhalt: »Das solltest du bedenken, wenn es um Bjørg geht, Rita.«
Das stach. Der Schmerz. »Schweig still! Wie kannst du es wagen …« Rita erhob einen warnenden Zeigefinger gegen den Bruder. Gewiss, sie hätte sich erheben, auf den Boden stampfen sollen, rechnete allerdings nicht damit, dass irgendwer seine grotesken Worte ernstnahm.
Ragnhild, die schläfrig wirkte, richtete sich in ihrem Stuhl auf und fragte vertrauensselig, vielleicht weil sie bald Krankenschwester sein würde: »Sind manche Menschen etwa weniger wert als andere?«
Maud reagierte ebenfalls: »Was Sie da sagen, Herr Qviller, ist gelinde gesagt ungeheuerlich. Meinen Sie, wir sollten anfangen, erwünschte Individuen von unerwünschten auszusortieren, Menschen zu beseitigen wie Unkraut aus dem Blumenbeet?«
Max: »Ich darf daran erinnern, dass eben erst ein neues Sterilisationsgesetz verabschiedet wurde … Es ist mit eindeutiger Mehrheit angenommen worden.«
Max redete wieder wie aufgezogen, Rita verschloss die Ohren, hörte nur einzelne Worte. Wichtig, sagte er. Freiwillig, sagte er. Das Beste für das Gemeinwohl, sagte er. Rita fühlte sich allmählich schwindlig. Mit der Einwilligung der Angehörigen, hörte sie. Zur Verbesserung der Bevölkerung, hörte sie. Kommende Geschlechter. Sie musste ihn stoppen: »Was kommt als nächstes, Max? Willst du dich als Zuchthengst melden?« Sie fühlte sich krank, krank von allem, was Max sagte. Und in dem Wissen, dass viele sich heute nicht eingestehen würden, dass solche Ideen einst unter den Menschen verbreitet waren, beeilen wir uns hinzuzufügen: Alles hier Erwähnte kann als repräsentativ gelten für diese Zeit. Auch für Norwegen. Die Ōuzhōu-Gruppe, die ihre Formulierungen gern auf die Spitze treibt, spricht von einer »skandalösen Anzahl an Sterilisationen in Norwegen im Zeitraum von 1930–1970«. Siehe auch Norwegens dunkles Geheimnis von Fira Hardjono (Yoguakarta Y-1013).
Max bedachte sie mit einem mildtätigen Blick: Du verstehst nicht, setzte er nach. Ganz elementar, setzte er nach. Menschen, die nie Kinder bekommen dürfen, setzte er nach. Die Weitergabe schlechten Erbguts verhindern. In einem seiner Mundwinkel hatte sich Speichel angesammelt.
Rita blickte verzweifelt um sich, gewahrte das Kristall des Kronleuchters, das Silber der Kandelaber, Gemälde in vergoldeten Rahmen, die außergewöhnliche Tapete mit ihrem diskreten Muster, und spürte, wie das alles von diesen Worten besudelt wurde und Missmut sich in ihr breitmachte. Wie unpassend, wie barbarisch war solche Rede in einer Villa, von der sie einmal gehofft hatte, sie würde sich zu einem Zentrum norwegischer Bildung, einer radikalen Variante der Ideen des Lysaker-Kreises entwickeln.
Albert saß nur noch da und lachte gedämpft, schenkte sich Cognac nach, für ihn war die Diskussion offenbar eine köstliche Unterhaltung, eine willkommene Abwechslung zu seinen Werftbestellungen. »Wie ich schon sagte, Rita. Du musst auf Bjørg aufpassen. Max hat recht. Wenn einer sie will, und sie bekommt Kinder, ist es äußerst schlecht bestellt um unsere Sippe.« Er ließ ein hässliches Lachen hören, fast wie ein Husten.
»Albert!« Wieder ein ohnmächtiger Zeigefinger gegen ihren Bruder. Damit war alles gesagt.
Etwas war mit der Atmosphäre im Zimmer geschehen. Rita wandte sich um und entdeckte Bjørg in der Türöffnung zum Wohnzimmer. Das schwarze Haar zerzaust, medusenhaft. Die beiden Söhne blond, die Tochter dunkel. Rita wusste nicht, wann Bjørg heimgekommen war, wie lange sie schon dort stand, völlig still, und dem Gespräch zuhörte.
Das Schlimmste war, dass Rita sich schon des Öfteren gefragt hatte, ob es sein konnte, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmte. Bjørg war von der ruhigen Sorte, viele fanden sie seltsam. Ihr Gang war schwer und gebeugt, und oft stand ihr Mund offen, wie bei einer Zurückgebliebenen. In der Schule hatte sie sich schwergetan. Jetzt hatte sie immerhin einen Freund, aber ob sie Kinder bekommen sollte?
Bjørg kam mit wuchtigen Schritten ins Zimmer, griff sich einen der Holzscheite aus dem Kamin und hielt ihn am verkohlten Ende, während der oberste Teil immer noch brannte. Es sah aus, als hielte sie eine Fackel in der Hand. Rita wollte etwas tun, wollte sie um Entschuldigung bitten, Worte finden, mit denen sie ihre Tochter beruhigen konnte, doch es geriet alles durcheinander, sie saß da wie gelähmt, denn Bjørg stand mit dem brennenden Holzstück einfach nur da und hielt es in die Höhe, als wolle sie etwas sagen oder als sei die Tatsache, dass sie diese Fackel hochhielt und sich dabei absichtlich verletzte, selbst schon eine Aussage. Für Rita sah es aus, als ob es Bjørg sei, die brannte. Als wäre sie selbst die Fackel.
»Ihr liegt alle falsch!«, rief sie. »Der Weltkrieg hat schon begonnen. Er hat im November vor anderthalb Jahren begonnen. In der Nacht, als die Nazis in Deutschland die Synagogen niederbrannten.«
Max blieb unbeirrt sitzen, murmelte wie zu sich selbst: »O, diese Juden, diese Juden.«
»Bjørg, leg das weg!«, rief Ragnhild. »Kümmere dich nicht drum, was die sagen!«
»Sei vorsichtig, sonst verbrennst du dich noch!«, rief Maud.
Beide streckten die Arme aus wie in einem Versuch, sie zu erreichen.
Nur Albert handelte, er war vom Stuhl aufgesprungen und auf dem Weg zu Bjørg, wie um zu verhindern, dass sie die Fackel durchs Zimmer warf und die Gardinen in Brand steckte. Doch dann schleuderte sie das Holzscheit einfach zurück in den Kamin, dass die Funken stoben, ging rasch auf Max zu und verpasste ihm mit der flachen Hand eine Ohrfeige, so dass auf seiner Wange schwarze Rußstreifen zurückblieben.
»Jemand muss diese geistesgestörte Weibsperson einsperren!«, rief er.
Albert hatte seine Ruhe wiedergefunden. »Was kann erquickender sein als eine Ohrfeige von einer temperamentvollen Frau?«, scherzte er und erhob das Glas in Bjørgs Richtung, bevor diese wieder hinaus und nach oben in ihr Zimmer verschwand. Und als sei nichts vorgefallen, kehrte er zum Thema des Abends zurück: Die Herrschaften bräuchten keine Angst zu haben, Norwegen sei schlichtweg uneinnehmbar. Die Landschaft sei eine einzige große Festung. »Den Feind in die Berge locken, und unsere Skiläufertruppen machen ihnen den Garaus! Skål!«
»Jesses, wir haben Skiläufertruppen«, sagte Max und rieb sich mit einem Taschentuch Ruß von der Wange.
Rita wollte Bjørg hinterhergehen, sah aber, dass Dagny bereits auf dem Weg die Treppe hinauf war, um sich um sie zu kümmern. Keiner konnte besser mit Bjørg umgehen als Dagny. Rita blieb sitzen.
Bjørg. Immer war irgendetwas mit ihr. Ein Kummer, der kein Ende nahm.
Versuchen, sich keine Sorgen zu machen. Versuchen, an etwas anderes zu denken.
Aber was war das bloß mit diesen Männern, die einfach mir nichts, dir nichts drauflosbrüllten? Wie konnten sie so schrecklich verletzende Dinge sagen, nur um sie im nächsten Moment wieder zu vergessen? Oder über Krieg schwatzen, als handle es sich um einen vergnüglichen Zeitvertreib? Rita erkannte, dass dies, diese männlichen Kriegsfantasien, außerhalb ihrer Auffassungsgabe lagen. Eine Krokodilmentalität. Und schlimmer: außerhalb ihres Einflussbereichs. Oder war es schlicht so, dass den Frauen, allen Frauen Europas, jene Gemeinschaft, jene Allianz fehlte, die diese gewaltsamen, diese maskulinen Pläne zu beeinflussen vermochten? Rita merkte, wie sie kopfschüttelnd und still sitzen blieb. Sogar diese Feier wurde vollkommen von Männern dominiert, den erwachsenen mit ihrer Erhabenheit, den beiden jungen mit ihrer Kampfeslust und ihrer natürlichen Selbstsicherheit. Ragnhild, obwohl jünger als sie, stand ihnen an Klugheit in nichts nach, aber sie ließen ihr keine Chance. Trotzdem konnte Rita nicht anders, als zu glauben, dass die beiden jungen Damen es einmal leichter haben würden als sie, niedrigeren Schwellen begegnen würden. Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, war sie sich schon wieder nicht mehr so sicher.
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