»Ich habe ihr bereits eine Mitfahrgelegenheit angeboten«, sagte ihr Bruder.
Sie schlenderte ins Haus, fand ihre Söhne im Vorzimmer, zusammen mit Ragnhild und Maud. Die Jungs mussten die Angelegenheit geklärt haben, sie kamen auf sie zu, schuldbeladen. »Entschuldige, Mutter, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist«, sagte Harald. »Ein unverzeihliches, törichtes Benehmen«, sagte Sigurd. Beide umarmten sie.
So standen sie eine Weile. Hielten sie umarmt. Wieder wurde Rita unsicher. War das echt? Oder taten sie das nur, weil Maud zusah?
Sigurd lief Max hinterher, der einen Wagen bestellt hatte. Harald würde bei einem Freund in Lilleaker übernachten und wollte laufen. »Ich brauche ein bisschen Abkühlung«, sagte er. »Entschuldige noch einmal, Mutter, das war peinlich.« Er versuchte zu lächeln, nickte Maud zu, bevor er sich verabschiedete.
Albert tauchte auf und fragte, ob die jungen Damen soweit seien. Ragnhild umarmte Rita. »Danke, Tante. Und der Karamellpudding war sogar besser als der von Großmutter«, sagte sie. »Ich hoffe, wir werden uns wiedersehen«, sagte Maud und fasste Rita feierlich an der Hand, was in Rita die Frage aufwarf, ob sie die junge Frau je wiedersehen würde.
Kurz darauf waren die letzten drei Gäste Schatten am Tor.
Die Sekunden tickten. Sie konnte sich nicht bewegen. Plötzlich war der Boden, auf dem sie stand, aus zerbrechlichem Glas, das jederzeit bersten konnte. Ohne recht zu wissen, warum, eilte sie fast fluchtartig ins Haus auf die kleine Toilette im Anschluss an die Treppenhalle, als handle es sich um einen Sicherheitsanker. Sie setzte sich auf den Klodeckel und blieb still darauf sitzen. Sie nahm den Duft des Seifenstücks auf dem Waschbecken wahr. Lavendel. Dann kamen die Tränen. Sie flossen so stark, und trotzdem beinahe lautlos, dass sie sich, um nicht herunterzufallen, am Klodeckel festhalten musste. Sie ließ es einfach kommen, nahm sich die Zeit, die sie brauchte. Sie wusste nicht, was in ihr vorging. Doch, sie wusste es. Nein, sie wusste es nicht. Die Tränen flossen, sie zitterte am ganzen Körper. Sie blickte zu Boden und sah, wie die Tränen kleine, nasse Flecken auf den Keramikfliesen bildeten, auf dem schönen Mosaikboden, den ihr Vater seinerzeit mit liebevollen Händen verlegt hatte, und beim Gedanken an ihren Vater weinte sie noch heftiger.
Wir geben zu, es mag merkwürdig erscheinen, dass diese Person, eine Frau, die an ihrem 44. Geburtstag weinend in einem kleinen Raum sitzt, als ein wichtiges Teilstück betrachtet werden kann in der Geschichte, die ein Licht werfen soll auf die Stärke und die Dynamik der Long-Dynastie, jedoch befindet Rita Bohre sich an dieser Stelle an einem Tiefpunkt, und aus diesem Tiefpunkt heraus wird sie wieder emporsteigen, ja, nur wenige Sekunden später schon gelingt es ihr, sich zusammenzureißen und den Blick zu heben, denn auf dem Regal über dem Waschbecken lag ein Stein. Sie platzierte diesen Stein immer an verschiedenen Stellen im Haus, damit er ihr gewissermaßen unverhofft begegnete, ihr seine Geschichte in Erinnerung rief. Sie beugte sich nach vorn, und im selben Augenblick, als sie ihn umfasste, wurde das Zittern weniger. Zärtlich strich sie mit ihrer Hand über den Stein. Doch es war gar kein Stein, sondern ein Fossil. Ein Trilobit aus dem Ordovizium. Sie nannte ihn Asaphasus. Unzählige Male hatte sie ihn in der Hand gehalten. Ein archimedischer Punkt. Ein persischer Blick, verzehnfacht. Zugleich eine schwindelerregende Frage: Wird auch der Mensch womöglich einst so betrachtet werden, wie wir heute das Fossil eines Trilobiten betrachten, dessen letzte Art vor 250 Millionen Jahren ausgestorben ist?
Bjørg musste heruntergekommen sein und sich trotz der Brandwunde ans Klavier gesetzt haben. Rita hörte sie etwas Einfaches spielen, unendlich klar und gleichsam von der Tiefe eines Sternenhimmels, es hörte sich nach Bach an, wiewohl Bjørg eigentlich alles auf ihre ganz eigene Weise spielte, irgendwie nach Gehör, doch es klang wie Bach, wie eine seiner Inventionen. Als ob alles von neuem begänne, aus etwas Grundlegendem und Selbstverständlichem heraus.
Eine wundersame Ruhe breitete sich in ihrem Körper aus. Eine Ruhe, wie sie nach großen Gemütsbewegungen entsteht. Sie lauschte dem Klavierspiel. Ein ABC der Töne. Die Ängstlichkeit, die sie seit mehreren Tagen verfolgte, verflog allmählich. Auch deshalb, weil sie tief in ihrem Innern wusste, dass nichts passieren würde. Eine britische oder deutsche Invasion in Norwegen war einfach zu undenkbar.
Steh auf!, dachte sie.
CAFÉ AGORA
Wir hätten unseren Bericht selbstverständlich auch hier beginnen können, da das Folgende, oder die Ereignisse, die als Ursache des nun Folgenden betrachtet werden können, in so vielen unseren Quellen zugrundeliegenden Erzählungen oder Erzählungsbruchstücken beschrieben, um nicht zu sagen, besungen wurden, dass sie den eigentlichen Kern der norwegischen Mentalität des 20. Jahrhunderts zu bilden scheinen. Den Spuren nach zu urteilen, muss die kleine Nation mehr als hundert Jahre gebraucht haben, um diese Erfahrungen zu verarbeiten.
Es war spät am Morgen, als Harald Keller, zumeist unter dem Namen Harald Bohre erwähnt, endlich erwachte und sich nach Sekunden der Verwirrung – die Tapete, das Bett, der Geruch – erinnerte, wo er war. Vorsichtig wand er sich unter dem Arm einer Frau heraus, die ihn auch noch im Schlaf umklammerte, und betrachtete die landkartenähnlichen Flecken auf dem Rollo. Er hatte Lust auf eine Zigarette, verzichtete aber. Er verspürte das Bedürfnis, sich zu waschen, hatte aber nicht die Kraft aufzustehen. Bis die Arbeit im Theatercaféen rief, sollte er lieber die Zeit nützen und an diesen weichen Körper angeschmiegt liegenbleiben, dachte er und kroch wieder zurück. Nicht dass er sich nicht darauf freute, Weste und Schürze anzulegen, Speisekarten auszuteilen, die Gesichter der Gäste zu studieren, wenn sie beim Lesen der Karte gleichsam vermittels der gefälligen Schrift in Gedanken von jedem Gericht kosteten; genauso wichtig aber war es ihm, so viel wie möglich über Betriebswirtschaft zu erfahren, denn am Ende jener Tage, die er wie an einer Schnur aufgereiht vor sich liegen sah, strahlte die Verwirklichung seines Traums, seines eigenen Café Agora. Harald Keller unterschied sich nicht von anderen Menschen. Die Nase in einen Frauennacken gebohrt, die Augen geschlossen, verschloss er die Augen gleichzeitig auch vor der Tatsache, dass jetzt jeden Tag das große Chaos ausbrechen konnte. Es war der 9. April 1940, und Harald Keller wurde, noch buchstäblicher als andere Norweger, von einem historischen Wendepunkt im Bett überrascht. Im Laufe einiger frenetischer Stunden sollte er ein warmes Bett mit einer schlafenden Frau darin gegen eine verschneite Böschung und ein Maschinengewehr im Anschlag tauschen.
Ein kurzes Frühstück, ein kurzer, leicht angestrengter Austausch von Phrasen, ein kurzer pflichtschuldiger Kuss, dann eilte er hinaus. Vergangenen Abend noch war sie ein Gast gewesen, eine Frau, die ihn angestarrt, ihm Blicke zugeworfen hatte, die ihm nur zu gut bekannt waren, und nach der Sperrstunde war er mit zu ihr nach Hause gegangen. Sie war jung, gutaussehend, Witwe. Vielleicht hatte sie ihm auch ein wenig leidgetan. Sie war Künstlerin. Vielleicht eine mit Zukunft, vielleicht auch nicht. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich an ihn rangemacht hatte, aber erst am vergangenen Abend hatte er nachgegeben. Er war nicht stolz darauf, und es war erst das zweite Mal, dass er sich auf so eine Geschichte eingelassen hatte. Fast wie zum Trost hatte er bei dieser gebieterischen, selbstsicheren Frau Zuflucht gesucht, womöglich konnte er durch sie dieses ganze Schlamassel mit Maud vergessen. Nach der missglückten Feier bei Mutter war er noch stärker in eine Art Gleichgültigkeit hineingeschlittert, hatte den Zufall regieren lassen. Das lange Schlafen war nicht nur auf Erschöpfung zurückzuführen, sondern ebenso sehr auf die Schwermut, die über ihn hereingebrochen war. Er wollte in Schlaf fallen, erst durch einen Wangenkuss von Maud wieder geweckt werden.
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