1 ...7 8 9 11 12 13 ...44 Wo war Maud? Rita stand auf und ging in den Vorraum. Hatte sie das Haus verlassen? War das ein Protest? In der Halle, bei der Treppe, traf sie auf Albert. »Du kannst dich wieder entspannen, Dagny ist gerade nicht in der Küche«, sagte sie. »Gib’s auf.« Er überhörte, was sie sagte, glotzte an die Decke und machte eine Bemerkung über das Haus, das seiner Meinung nach zu verfallen beginne, weil es an Instandhaltung mangle. Ja, erwiderte sie, genau an der Stelle blättere großflächig die Farbe ab, und das sei ärgerlich, weil dadurch die schönen Dekorationen zu verschwinden drohten, ansonsten aber sei es wohl nicht so schlimm? Was er damit sagen wolle? Ob er etwa damit ausdrücken wolle, dass sie ihr gemeinsames Erbe verkommen lasse, ein Haus, das übrigens jetzt ihr allein gehöre?
Als ob das eine Antwort wäre, fragte er wie nebenbei, ob er ihr dabei behilflich sein solle, die Villa zu verkaufen. Ob das denn eine Bleibe für die Zukunft sei? Hätte die Gegend inzwischen nicht viel von ihrem Charme verloren?
Er hatte zu viel getrunken. Genau wie sie.
Warum aber redete er auf einmal so abschätzig über das Viertel? Hatte er vergessen, wie stolz er in seiner Jugend gewesen war? Er hatte behauptet, Lysaker sei eine Art Jotunheimen der Kultur. Ein Nationalheiligtum. Einmal hatte er eine Karte von Lagåsen gezeichnet und bei vielen der Häuser Zahlen hineingeschrieben. Zuunterst konnte man außerdem bei jeder Zahl sehen, wer in dem jeweiligen Haus wohnte. Er hatte versucht, die selbstgezeichneten Karten für zehn Øre am Bahnhof Lysaker zu verkaufen.
Mauds Jacke hing noch an ihrem Platz, und Rita beeilte sich hinein und ließ ihren Bruder an die Decke starrend zurück. Vor der Türöffnung zum Wohnzimmer hielt sie einen Augenblick inne und beobachtete Sigurd, Harald und Max, die nahe am Kamin standen und deren Gesichter im Widerschein der Flammen garstig verzerrt aussahen, lauschte einige Sekunden dem hitzigen Wortwechsel, immer wieder dieselben Wörter … Nrrwgn … unsere verdammte PFLICHT … Der König, verflucht noch eins, der KÖnig … Diedeutschensindunserefreunde … Gwissen … Vaaatrland … Zur Tat … TAT … Eidsvoll, Scheiße nochmal … DOvre, zum Henker … Eeeehre … Kng HAAkon!! Für Rita hörte »Tat« sich an wie »tot«, und das war nun also der Zeitpunkt, als sie zu dem Schwert aus Toledo hinaufschielte und ernsthaft darüber nachsann, ob die flache Klinge sich dazu verwenden ließe, gewissen Leuten eins auf den Allerwertesten zu verpassen. Stattdessen aber wandte sie sich dem Garten zu, und genau in dem Moment, als sie im Fensterglas ihrem eigenen Gesicht begegnete, spürte sie, wie aller Optimismus aus ihr entwich. Sogar in dem dunklen Glas konnte sie die Falten sehen. Die Zeit. Der Teufel soll sie holen, die galoppierende Zeit. Als sie noch jung war, wollte sie nach China reisen, hatte aber nur die Hälfte des Weges geschafft. Ihre Karriere war ins Stocken geraten. Die Kinder machten Probleme, alle drei hatten ihr eigenes Bündel zu tragen. Das große, prächtige Haus verfiel um sie herum. Noch nicht einmal eine Ente konnte sie braten. Obendrein war sie betrunken und hatte die Kontrolle verloren. Obwohl Albert es nicht laut aussprach, wusste sie, was er meinte: Sie war eine Verliererin.
Oh, wie sie sich auf diese Party gefreut hatte. Jetzt wollte sie nur noch allein sein und mit einer Tasse Darjeeling in dem tiefen Ohrensessel sitzen. Sie öffnete die Tür und trat hinaus auf die Terrasse. Mmm, was für eine Erleichterung. Eine Abendluft, die augenblicklich die Sinne schärfte. Sie entdeckte frische Spuren in dem nicht sonderlich tiefen Schnee, sah sie weiter den Garten hinab verschwinden. Sie machte sich nicht die Mühe, Schuhe für draußen anzuziehen, folgte den Fußabdrücken, von denen sie annahm, dass sie von Maud stammten und die bis zu dem kleinen Abgrund hinunterführten. Sie kam an der riesigen Eiche vorbei, im Winter noch schöner, ohne Blätter und mit Plattformen versehen, die von Kindern, auch von ihr, in verschiedenen Höhen in den Baum gebaut worden waren. Die Temperatur war gegen null gesunken. Der Himmel war wolken- und mondlos und voller Sterne.
Sie entdecke Maud auf der Mauereinfriedung, balancierend wie ein kleines Mädchen, nicht wie eine erwachsene Frau im Abendkleid. Bei dem Geräusch von Ritas Schritten wandte sie sich um. »Pass auf, da geht es steil runter«, sagte Rita, sie sagte es ruhig, wollte ihre Angst verbergen. Maud bog ihren schlanken Körper durch und beugte sich hintüber. Rita hatte den Eindruck, dass das für sie ein Spiel war, vielleicht mit dem Schicksal, dass sie vielleicht nichts dagegen hätte zu fallen und sich, mit ein bisschen Pech, das Genick zu brechen.
»Hast du geweint?«, fragte Rita. »Ist irgendwas?«
Maud schüttelte den Kopf. »Ich habe nur ein bisschen Luft gebraucht«, sagte sie. »Ich bin gern draußen. Was für ein reizendes Anwesen! Sie sollten sich glücklich schätzen.«
Es wirkte, als wolle sie etwas überspielen – das Heitere und Lebhafte, das Rita mit ihr verband, war verschwunden. »Hattest du eine anstrengende Tour zu der Hütte im Krokskogen letztes Wochenende?«, fragte Rita aus einer Ahnung heraus, irgendetwas könnte dort vorgefallen sein. »Sigurd hat erzählt, er hat dich besucht. Hat es nicht stark zu schneien begonnen?«
Maud hätte beinahe den Halt verloren. Rita ergriff ihre Hand. »Dir ist kalt«, sagte sie. »Lass uns zurückgehen.«
Maud war drauf und dran, etwas zu sagen, hüpfte aber stattdessen schweigend von der Mauer. Rita gefiel nicht, was sie ganz plötzlich an der jungen Frau erblickte. Sie hoffte inständig, Maud würde dieser Funke in ihrem Blick erhalten bleiben. Niemals verlöschen.
Auf dem Rückweg hörten sie das Gezanke bereits durch die offene Terrassentür. Als sie ins Wohnzimmer traten, standen die Jungs gefährlich nah beieinander. Harald, der sich weiterhin für Neutralität und Frieden starkmachte, drohte ironischerweise seinem Bruder mit der Faust.
»Du warst schon immer ein verdammter Feigling!«, rief Sigurd. Er hatte während der ganzen Feier nur Rotwein getrunken, und als ihm schließlich die Argumente ausgingen, schüttete er das, was sich noch in seinem Glas befand, Harald ins Gesicht, genauer gesagt, er traf nicht sein Gesicht, sondern seine weiße Hemdbrust, so dass es auf einmal aussah, als sei er verwundet.
»Ich lasse mich nicht provozieren«, sagte Harald. »Ich bin Pazifist. Nachdem ich am Truppenübungsplatz die Schießscheiben in Fetzen geballert hatte, habe ich mir geschworen, nie wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen.«
»Und was würdest du tun, wenn genau in diesem Augenblick ein Deutscher hier hereinkäme und Mutter ins Visier nähme?« Sigurd ließ den Blick umherschweifen. »Oder Maud? Würdest du nicht wenigstens dieses Schwert da von der Wand nehmen?« Er deutete mit dem Daumen zum Kamin.
Wie zur Antwort rannte Harald hinüber, riss das Schwert von der Wand, mit einer Heftigkeit, dass Schrauben und Mauerverputz herabrieselten, und zog es aus der Scheide. »Jetzt lässt du also den Säbel rasseln«, lachte Sigurd. Rita bekam es mit der Angst zu tun, trat einen Schritt auf Harald zu und hob abwehrend die Hände, doch ohne sie zu beachten, schlug er die Klinge mit voller Kraft gegen eine der gusseisernen Stangen des Kamins, wie in einem gewaltsamen Versuch, eine Waffe unbrauchbar zu machen. Nichts passierte. Es handelte sich um Stahl aus Toledo, allgemein bekannt für seine Geschmeidigkeit und Härte. Er verzog das Gesicht, weil ihn die Hand schmerzte. Das machte ihn nur noch rasender, er setzte das Schwert mit der Spitze auf dem Fußboden auf, stellte sich mit der Schuhsohle auf die Klinge und versuchte mit seinem ganzen Gewicht, sie zu verbiegen. Vergebens.
Sigurd krümmte sich vor Lachen. »Wird echt schwer werden, den Frieden zu sichern, wenn nicht einmal ein uraltes Schwert einen Kratzer von dir abbekommt.«
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