Xerxes. Ein Lehrsatz. Geschichte als Gleichung mit zwei Unbekannten.
Als Rita aus ihrer eigenen Gedankenwelt zurückkehrte, wirkte die Atmosphäre weniger angespannt. Sie achtete darauf, dass Dagny allen nachschenkte, deren Gläser leer waren, dass Harald Holz im Kamin nachlegte, und einige Minuten lang standen die Zeichen gut für ein zerstreutes Geplauder, die Gäste unterhielten sich in Zweiergruppen über Alltägliches. Doch dann, vielleicht wegen des Cognacs oder weil es unmöglich war, das Thema außen vor zu lassen, kehrte die Diskussion wieder zurück zu Norwegen und der Kriegsgefahr. Alle redeten laut durcheinander, und auch die jungen Damen brachten ihre Anschauungen ein. Nur Albert schwieg. Rita hatte den Eindruck, als ob ihn das alles eigentlich langweilte. Seine Schiffe waren auf allen Weltmeeren unterwegs, auf Meeren voller U-Boote, und er saß da und langweilte sich. Hatte sie nicht kürzlich erst gelesen, es seien bereits fünfzig norwegische Schiffe verloren? Oder täuschte sie sich? Schmiedete er, hinter seiner Maske, gerade einen Plan, wie er Dagny ins Schlafzimmer locken konnte? Man sollte nie unterschätzen, wie verblüffend einfach die Männer gestrickt waren.
Erneut beobachtete sie ihre Söhne in ihrem Wetteifern um das, was für sie der heilige Gral des Abends war, Mauds Aufmerksamkeit. Ragnhild musste das ebenfalls bemerkt haben, denn die meiste Zeit saß sie nur da und lächelte, als ob dieses ganze Drama sie amüsierte oder sie es als lehrreich und spannend empfand.
Rita hatte zu viel getrunken, setzte aber trotzdem das Glas nicht ab. Das Ganze fing langsam an, ihr zu entgleiten, allerdings war es ihr inzwischen egal, welchen Ausgang der Abend nahm.
Abermals ergriff Maud die Initiative: »Aber ihr Kulturbegeisterten …«, fing sie mit einer Handbewegung Max, Harald und Sigurd ein, »steht die Kultur diesem Unfug wirklich machtlos gegenüber?«
Albert gab einen Seufzer von sich und murmelte etwas über das idealistische Geschwafel der Künstler, wurde aber von Max unterbrochen: »Die Musiker versuchen wenigstens, etwas zu tun!« Er wirkte froh über die Gelegenheit, von dem Konzert erzählen zu können, das er Anfang der Woche in der Universitätsaula besucht hatte. Apropos Kriegsgefahr: Wenn die Deutschen wirklich in Norwegen einfallen wollten, hätten sie wohl kaum zuerst ihren besten Dirigenten geschickt. Oder was sie denn glaubten, zuerst Furtwängler und dann Bombenflugzeuge?, sagte Max. Wieder Gelächter. Max pries dieses Konzert in den höchsten Tönen, schwärmte hemmungslos von Furtwängler, von der Art und Weise, wie er die nicht gerade erstklassigen Musiker des Oslo Filharmoniske Orkester inspiriert habe. Nie hätten Haydn, Richard Strauss und Beethoven in einem norwegischen Konzertsaal besser geklungen. Der Höhepunkt jedoch sei mit der Zugabe erreicht worden, bei der Ouvertüre zum Tannhäuser von Wagner. Max schloss die Augen, dirigierte mit der Zigarette in der Luft, als höre er Strofen dieses Werks in seinem Kopf. »Nein, wenn sie eine Invasion bei uns im Sinn hätten, bräuchten sie dafür nur ihre überlegene Kultur!«, sagte er.
»Ist Furtwängler nicht Hitlers Lieblingsdirigent? Und Wagner der Komponist, den er am meisten schätzt?« Wieder Maud. Eine Falkin. Ließ Max nicht davonkommen. Es war, als gewahrte sie eine Verbindung zwischen dem Konzert in der Aula und einer drohenden Gefahr, einen Zusammenhang, den keiner der anderen sah. Rita ertappte sich dabei, Maud zu bewundern und einen Scharfsinn wiederzuerkennen, den sie selbst einst besessen hatte.
Max weigerte sich, seine Begeisterung zu dämpfen. »Eine Dosis deutscher Kultur würde uns wahrhaftig nicht schaden«, sagte er. »Oder deutscher Führung«, fügte er hinzu. Sogar Albert zuckte auf seinem Stuhl zusammen. »Wieso es nicht als Befreiung von unserer eigenen Untauglichkeit betrachten? Wir Halbbarbaren sollten uns glücklich schätzen, von der deutschen Kultur unter die Fittiche genommen zu werden. Wäre das nicht so, als wäre man im im Altertum von den Griechen erobert worden und hätte an der reichen hellenistischen Kultur teilhaben dürfen?« Er schaute Rita an, und in seinem Blick lag etwas Träumerisches. »Wer weiß? Vielleicht stehen wir hier vor einer echten Möglichkeit. Ein großer Sprung vorwärts, aufwärts. Nicht nur für die Kultur, sondern für die ganze Menschheit. Eine Veredelung.«
»Du gütiger Himmel … Jetzt gehst du zu weit, Max, sogar für deine Begriffe.« Rita hatte sich erhoben, weigerte sich zu glauben, dass er das wirklich ernst meinte, er war bloß betrunken. Trotzdem fühlte sie sich provoziert. Lauter, als sie es wollte, sagte sie, die Geschichte habe gezeigt, dass die Menschheit sich nicht auf ein höheres Ziel zubewege. Man brauche sich bloß Persien anzusehen. Auf alle drei Glanzzeiten folgte der Niedergang.
Albert war verschwunden. Rita sah vor sich, wie er in der Küche mit Dagny flirtete, sie womöglich zu etwas drängte, sie einzuschüchtern, zu verführen versuchte. Sie wurde aus ihrem Bruder nicht schlau. Sollte er sich nicht vielmehr um den Krieg sorgen und um das Schicksal seiner kostbaren Schiffsflotte?
Und was war mit dem Menschen?, wollte Max wissen. Konnte der Mensch denn nicht veredelt werden? Lächelnd schielte er zu der jungen Ragnhild.
Rita witterte eine neue Gefahr, lehnte sich schwer in ihrem Sessel zurück, obwohl sie eigentlich aufstehen und Max einmal so richtig durchschütteln sollte. Was er mit Veredelung meine? Sie bereute die Frage, denn es schwante ihr, dass dem Thema etwas Heikles, oder frei heraus gesagt, etwas Diabolisches anhaftete. Sie versuchte, Max’ Redeschwall am Rand ihres Bewusstseins abzukoppeln, denn zuallererst wollte sie sich auf die Tatsache besinnen, dass sie, die Familie, oder zumindest Teile der Familie, hier zusammengekommen waren, am Kamin saßen, den Zusammenhalt stärkten, tranken, Konversation führten, oder es zumindest versuchten.
Max’ Stimme holt sie wieder zurück: »Ich denke, wir sollten uns das Tierreich ansehen«, sagt er leichthin, und auch wenn sie von alldem nichts mehr hören will, ist es unmöglich, nicht doch den einen oder anderen Gesprächsfetzen aufzuschnappen, über die Natur, in der sich alles von selbst regulierte … dass die am wenigsten Geeigneten untergingen … dass nur die mit dem besten Erbmaterial überlebten … Die Aufregung in seiner Stimme steigerte sich immer weiter: Heute, in unserer Gesellschaft, kümmerten wir uns um alle und jeden, ganz gleich, wie schwach sie seien. Sie wollte nichts hören, aber es gelang ihr nicht, den gesamten Redeschwall auszusperren: … wenn die alle Kinder bekommen … es geht um die Zukunft … auch fähige Ärzte und Politiker … die Gefahr, dass uns, den Menschen, eine Degenration bevorsteht. Sagte er das wirklich? Auf jeden Fall saß er hier, in ihrem Wohnzimmer, und erklärte, wir sollten selbst steuern, wer sich fortpflanzen dürfe. Warum sollten wir nicht ein bisschen an uns selbst herumbessern, an unserer eigenen Rasse? Wieso den Zufall regieren lassen? Immerhin würden ja auch ständig neue Getreidesorten, Kühe und Schweine gezüchtet.
Rita spürte ihre Wangen erröten: »Du vergisst einen nicht ganz unwesentlichen Aspekt, Max. Der Mensch ist keine Kuh und kein Schwein.«
Und er: »Nein, aber was sollte falsch daran sein, die Geistesschwachen oder regelrecht Geistesgestören zu sterilisieren? Unvorteilhafte Erbeigenschaften zu beseitigen?«
Albert war ins Zimmer zurückkehrt, er wirkte mürrisch, wie er da breitbeinig hinter den Jungs stand: »Sag’s doch einfach frei heraus, Max. Du spielst auf die Rassenhygiene an oder auf das, was wir mit einem schöneren Wort Eugenik nennen. Gibt es nicht drüben in Uppsala eine Einrichtung, die sich Institut für Rassenbiologie nennt! Vom Reichstag anerkannt. Die Schweden waren uns ja immer schon weit voraus.«
»Mir gefällt das Wort ›Erbhygiene‹ besser«, sagte Max. »Dabei geht es darum, zum Beispiel geistig Zurückgebliebene am Kinderkriegen zu hindern.«
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