»Was hat Einstein geschrieben?«, fragte Maud später, ausgerechnet an jenem Tag, als sie bei der Festung Akershus spazieren gingen und leichte Schneeflocken die Luft erfüllten.
»Er fragt, ob es möglich ist, die Menschheit von dem Unglück zu befreien, das der Krieg mit sich bringt«, sagte Harald. »Er hat den Traum, dass die Macht der Ideen einst stärker sein wird als die Macht der Gewalt. Die Kultur stärker als die Natur, der Gerechtigkeitsgedanke stärker als die Wirtschaftsinteressen.«
»Das wird wohl ein Traum bleiben«, sagte sie. »Die irrationalen Seiten des Menschen werden immer stärker sein als die rationalen. Leider.« Schweigend spazierten sie weiter, doch dann blieb sie plötzlich mitten am Festungsplatz stehen und senkte die Augenlider: »Und jetzt lebt Einstein nicht mehr in Deutschland und Freud nicht mehr in Österreich«, sagte sie. »Beide mussten fliehen.«
Es wunderte Harald, woher sie das wusste. Er selbst war sich nicht darüber im Klaren gewesen, dass Freud im Exil lebte, trotz seiner Begeisterung für Wien, die Hauptstadt der Kaffeehäuser.
Aber seine Mutter hatte schon recht, er las viele belletristische Werke. Er kaufte oft Bücher im Alhambra, dem Antiquariat, das sein Großvater mütterlicherseits in der Kirkegata gegründet hatte. Einmal hatte er den Pfarrer Konrad Steen, einen Kindheitsfreund seiner Mutter, dort getroffen. Harald hatte sich immer gefragt, in welcher Beziehung die beiden zueinander standen, ob es etwas mehr war als nur Freundschaft. Jedenfalls schrieb Konrad Steen in den Zeitungen oft über Literatur, Harald hatte den Eindruck, dass er genauso viele Bücher gelesen haben musste wie Sigurd Hoel, der es im Übrigen vorzog, im Restaurant Annen Etage des Hotel Continental zu sitzen, auch wenn Harald ihn mitunter in der »Künstlerecke« des Theatercaféen hatte vorbeischauen sehen. Im Alhambra hatten Harald und Konrad ihre Ansichten über Ein Flüchtling kreuzt seine Spur von Aksel Sandemose ausgetauscht, ein Buch, das Harald mit Neugier gelesen hatte, nachdem ein älterer Kellner behauptet hatte, er sei dabei gewesen, als Sandemose im Theatercaféen das Romanmanuskript, einen ganzen Koffer voll, an jenen Verleger übergeben hatte, der das Buch schließlich herausbrachte, nachdem es von den beiden Großverlagen Gyldendal und Aschehoug abgelehnt worden war. »Das macht den Roman ja nur noch besser«, hatte Konrad lachend angemerkt, als Harald ihm die Anekdote erzählt hatte. Davor hatte Harald schon mit Maud über Sandemoses Buch diskutiert, in ihrer Hütte in der Nordmarka, aber ihr gefiel der Roman nicht. Sie waren darüber in Streit geraten, und es hatte sich herausgestellt, dass sie den Roman deshalb nicht mochte, weil sie dessen Verfasser nicht leiden konnte. »Ein unsympathischer Mensch. Ich lese keine Romane von amoralischen Schweinigeln, egal wie gut ihre Bücher sind«, hatte sie gesagt und dabei langsam geblinzelt, wie immer, wenn sie etwas sehr ernst nahm. Harald hatte an die vielen Male gedacht, als er Sandemoses ungehobeltes Benehmen im Theatercaféen mitangesehen hatte, seine unaufhörliche Jagd nach Frauen, es aber nicht erwähnt, weil er ihr nicht recht geben, sondern ihr lieber von Ronald Fangen erzählen wollte, einem Schriftsteller, den er oft bedient hatte und von dem er wusste, dass sie ihn mochte.
»Grüß deine Mutter«, hatte Konrad Steen beim Gehen gesagt, begleitet vom Läuten der kleinen Türglocke.
Harald fiel ein, dass er vergessen hatte, die Grüße auszurichten.
Im Café Agora, dem Lokal, das Harald eröffnen und zu einem natürlichen Versammlungsort für junge wissbegierige Menschen machen wollte, sollte es nicht nur Zeitungen geben, in- und ausländische, sondern auch eine Bücherwand. Es sollte ein Café werden, in dem es Bücher gab, die in so vielen verschiedenen Sprachen geschrieben waren, wie sie von den Besuchern gesprochen wurden. Alles, was man dazu dann noch brauchte, war ein Silbertablett mit einer Tasse Kaffee und einem Glas Wasser. Begeisterte Gespräche. Junge Männer, oder selbstbewusste Frauen wie Maud, mit Koffern voller brillanter Ideen. Nach seiner Ansicht, und darin stimmte ihm sogar seine Mutter zu, hatte die Aufklärungszeit in den Kaffeehäusern ihren Anfang genommen.
Warum also lag er hier und schoss auf Deutsche?
Was für ein Kontrast: In dem einen Augenblick servierst du Kaffee, im nächsten tödliches Metall.
An seinen Großvater, einen deutschen Architekten, der Eisenbahnstationen in Norwegen entworfen hatte, konnte er sich nur dunkel erinnern. An sein seltsames Norwegisch, sein Zäpfchen-R. An ein Haus, oder den Teil eines Hauses, in Homansbyen. Was ihm am deutlichsten im Gedächtnis geblieben war, waren die Figuren, die der Großvater aus einem weißen Taschentuch basteln konnte. Einen Hasen, der über den Schnee hoppelte. Und an seine Zeichenkünste. Ein strenger Mann, der zum Kind wurde, sobald er zu zeichnen anfing.
Harald fingerte am Maschinengewehr herum. Warum dachte er jetzt an das alles? Obwohl er hier saß und Ausschau hielt nach jemandem, den er töten konnte, rasten die Gedanken dahin. Vielleicht lag ja ein Architekturstudent auf der anderen Seite des Flusses. Einer, der einfach nur zeichnen wollte, Bahnhofsgebäude, Kaffeehäuser, der aber gezwungen war, ein Gewehr zu bedienen.
So durfte man unmöglich denken. Er musste den Zorn aufrechterhalten.
Die letzten vierundzwanzig Stunden hatte er sich nach Kaffee gesehnt. Mehr als nach etwas zu essen. Er hätte wer weiß was gegeben für eine Tasse Kaffee. Wieder schweiften seine Gedanken ab. Er sah seine Großmutter vor sich, eine alte Dame, die Østerdal-Dialekt sprach und in ihrer Küche in Homansbyen mit einer Mühle, einem Holzwürfel mit goldener Kuppel, Kaffee mahlte, und während die Kurbel sich gleichmäßig im Kreis drehte und die Bohnen knirschten, breitete sich der Kaffeegeruch im Zimmer aus. Sein Vater, Otto Keller, hatte immer begeistert davon gesprochen, dass seine Verwandtschaft mütterlicherseits aus Østerdalen stammte; über mehrere Generationen hatte der Wald für ihren Lebensunterhalt gesorgt, auch durch die Jagd. »Und hier sitze ich nun«, hatte Haralds Vater gesagt, »und zeichne Pläne für Lokomotiven! Was für ein Werdegang!« Und ich, ja, ich bin ins Jägerdasein zurückgekehrt, dachte Harald. Mit dem Unterschied, dass ich auf Menschen schieße. Er verspürte ein unbändiges Verlangen nach Kaffee. Wieso lagen sie hier und ballerten sich gegenseitig nieder? Es fehlte nicht viel, und er wäre aufgestanden und hätte gerufen: Ich gebe eine Tasse Kaffee aus! Lasst uns die Waffen niederlegen! Lasst uns Kaffee trinken, reden, lasst uns dieser Bestialität ein Ende setzen!
Unmöglich. Den Zorn aufrechterhalten.
Endlich. Er glaubte zuerst, es wäre eine Halluzination, aber es war wirklich: Zwei Männer kamen herangekrochen, einen großen grauen Eimer zwischen sich. Der Nachschubweg, oder zumindest Teile davon, mussten demnach unversehrt geblieben sein. Lang lebe das norwegische Heer! Wenn sie schon kein Essen bekämen, so bekämen sie wenigstens Kaffee. Er nahm ihn begierig entgegen. Dünner, schlechter Kaffee – er hatte nie besseren getrunken. Er schielte zu den anderen, die mit seligen Gesichtsausdrücken ihre Metallbecher zwischen den Händen hielten. Vorläufig blieb ihm nichts anderes, als mit dieser durchkämpften, patronenübersäten Schneelandschaft inmitten von Fichten als seinem Café Agora vorliebzunehmen.
Als ob das eine das andere bedingte, brachte der Geschmack des Kaffees das Bild eines Buches mit sich. In der Dunkelheit, im Schnee sitzend, sehnte er sich nach einer warmen Stube, einem Kamin, einem bequemen Sessel, einem Buch, vielleicht Anna Karenina – die Stelle, in der dem undankbaren Schwein Wronskij sein Glück, seine Verliebtheit, bereits wieder abhandengekommen ist. Was ihn betraf, hätte er genauso gut hier lesen können, sofern ihnen die Benützung einer Taschenlampe erlaubt gewesen wäre; er konnte überall lesen, viele Bücher hatte er sogar in der Krone der Eiche draußen vor der Villa Bohre gelesen. Maud war genauso. Ernsthaft in sie verliebt hatte er sich, als er sie letzten Sommer in ihrer Hütte beim Lesen beobachtet hatte. Sie hatte ein Buch aus dem kleinen Bücherregal gezogen, sich damit jedoch nicht aufs Sofa begeben, sondern es einfach in dem Regal darunter an eine freie Stelle gelegt und im Stehen gelesen, lange, als ob das, was sie las, ihr jede Regung unmöglich machte. Stunden später war er Zeuge einer weiteren Variante geworden. Nach dem Essen – Forellen, die sie selbst im Teich gefangen hatte, gefüllt mit Zitrone, Mandeln und Dill – hatte sie zunächst den Tisch saubergewischt. Dann ging sie hinaus, um ein paar Waldblumen zu pflücken, die sie in einer Vase auf den Tisch stellte. Sie schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, dazu ein kleines Glas Krähenbeeren-Likör, setzte sich an den Tisch und drehte den Stuhl so, dass sie auf das Wasser hinaussehen konnte. Danach schlug sie das bereitliegende Buch auf und las darin, völlig versunken. Nach einigen Minuten drehte sie sich um und entdeckte, dass er sie beobachtete, sicher mit einem verrückt-verliebten Lächeln um den Mund. »Leser können genauso viele Rituale beim Lesen haben wie Schriftsteller beim Schreiben«, sagte sie.
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