Es war ruhiger geworden auf der Anhöhe am anderen Flussufer. Geir hatte eine nicht angezündete Kippe im Mundwinkel und säuberte sich die Nägel mit dem Bajonett. Harald starrte zu den schönen Kiefern dort oben, solchen, die er einst als Silhouetten zu zeichnen gelernt hatte, mit schwarzem Buntstift. Erneut verweilte er in Gedanken bei seiner Mutter und ihrer Leidenschaft für Geschichte. Ihr gefiel nicht, dass Harald Romane las, sie war der Meinung, das, was in diesen Büchern dargestellt wurde, erwecke den Anschein von Tiefgründigkeit, lasse dabei aber alles Unverständliche und Komplizierte außen vor. Vor allem würden sie jener Heerschar an Zufällen keinen Platz einräumen, die nicht nur im Leben jedes Einzelnen eine bedeutende Rolle spielten, sondern ebenso sehr in der Weltgeschichte, die ja nichts anderes sei als die Summe von Menschenleben. »Nehmen wir etwa nur Xerxes’ Feldzug gegen die Griechen«, sagte sie. »Wären die Perser nur mit einer kleinen Streitmacht über die Ägäis gesegelt und im Süden auf der Insel Kythira an Land gegangen, hätten sie die Spartaner in Schach halten können; dadurch hätte der Angriff von Norden einen ganz anderen Ausgang genommen. Dieser Gedanke musste ihnen gekommen sein, aber er wurde nicht in die Tat umgesetzt.« Unlängst, zur Weihnachtszeit, war sie zusammengesunken in dem tiefen Lehnstuhl gesessen und hatte das Unheil verflucht, das über Europa hereingebrochen war. »Hitler soll sich als junger Mann an der Akademie der Bildenden Künste in Wien beworben haben«, sagte sie, »aber er wurde abgelehnt. Was wäre gewesen, wenn er aufgenommen worden wäre? Wäre die jetzige Lage dann eine andere?«
»Anstatt über die Bedeutung von Zufällen zu philosophieren, hätten wir vielleicht besser noch im selben Augenblick, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, einen Widerstand mobilisieren sollen«, sagte Harald.
»Ja, du hast recht«, sagte die Mutter. »Aber wir wissen nicht, ob Hitler nicht schon morgen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommt, und wer weiß, was dann mit Deutschland passieren wird.«
»Ich glaube nicht, dass du damit rechnen kannst, dass der Zufall sich immer auf deine Seite schlägt«, sagte Harald.
Gegen vier Uhr starteten die Deutschen einen heftigen Angriff. Sie feuerten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Waffen, auch mit Granatwerfen. In den ersten Minuten hatte Harald mehr als genug damit zu tun, sich hinter der Deckung in das Fichtenreisig zu drücken. Über ihnen pfiffen die Kugeln dahin mit einem unablässigen Piff-Piff, das ihn an das Geräusch erinnerte, das sie als Kinder beim Spiel gemacht hatten, mit dem Unterschied, dass jetzt von den Baumstämmen um sie herum Splitter wegstoben und aus dem Boden kleine Schneesäulen emporragten. Nicht weniger lebensgefährlich waren die von den Felsen zurückprallenden Querschläger. Trotzdem dachte Harald nicht eine Sekunde daran, dass er getroffen werden könnte. Noch weniger, dass er getötet werden könnte. Es gab noch so viel, was er tun wollte. Vor allen Dingen musste er diese Sache mit Maud in Ordnung bringen. Ausgerechnet ihre Stimme war es, an die er jetzt dachte. Vielleicht war es ihre Stimme, in die er sich als Erstes verliebt hatte, als sie am Kikut vor ihm im Schnee lag, peinlich berührt, weil sie so ungeschickt hingeplumpst war.
Dann passiert es. In der Stellung neben ihm richtet Alf sich ein wenig auf, um nachzusehen, ob sich durch eine leichte Lageveränderung des Maschinengewehrs ein besseres Schussfeld einrichten ließe, und im selben Moment trifft eine Salve ihn mitten ins Gesicht. Harald begreift zunächst nicht, was vor sich geht, Alf, der vornüberkippt und über den Kühlmantel fällt, dann herabrutscht und seitlich liegen bleibt, so dass Harald sein malträtiertes Gesicht sehen kann. Alf mit der schönen Singstimme. Ohne weiter darüber nachzudenken, robbt Harald zu ihm hinüber, ruft nach einem Sanitäter, obwohl er weiß, dass sie keine dabeihaben. Doch Alf ist tot. Wie seltsam nass seine Haare sind, wundert sich Harald, ehe er begreift, dass das vom Blut kommt. Er sieht die Bartstoppeln auf Alfs Wange, aber vor allem sieht er seine schönen Wimpern, wie von einem Kind.
Diese Zufälle. Wieso hatte die Kugel Alf getroffen und nicht ihn? Harald hatte ebenfalls überlegt, sein MG dort zu platzieren.
Alle eitlen Bedenken verbannt, kalt, ruhig, zugleich halb bewusstlos vor Raserei, hat er sich in Windeseile wieder auf den Sitz des Maschinengewehrs begeben; die Deutschen beginnen, übermütig zu werden, zeigen sich jetzt vermehrt in voller Größe oben auf dem Bergrücken; er feuert eine Salve ab, worauf einer wie ein geschlachtetes Tier zu Boden geht. Harald genießt den Anblick, ein Genuss, wie er ihn nie zuvor empfunden hat, und in den nächsten Sekunden erschießt er noch mehr Deutsche, von denen einer den Abhang hinunterpoltert, schlaff wie eine Stoffpuppe, Schnee löst sich, ein berauschender Anblick, noch ein Treffer, noch eine Gestalt sackt zusammen, als hätte man die Luft aus ihr entweichen lassen, fällt herunter, schnellt durch die Luft, als sie auf halbem Weg auf einem Felsen auftrifft, Haralds Hände zittern auf dem Doppelgriff, während das Maschinengewehr weiter Kugeln ausspuckt, das Triumphgefühl, das er dabei empfindet, ist einem Wahnsinn ähnlich, hier wird der Gerechtigkeit genüge getan, denkt er, Auge um Auge, Zahn um Zahn; in Dreiteufelsnamen, so kommt doch, ihr verdammten Deutschen! In einem parallelen Gedanken sieht er vor sich, wie er in wenigen Wochen bei der Rückkehr König Haakons als Ehrenwache am Ostbahnhof Aufstellung nimmt – der König in einer Eisenbahn, gezogen von der Dovregubben – und die Leute sich gegenseitig zuflüstern: »Das ist Harald Keller, der Kriegsheld!«
Um ein Überhitzen der Waffe zu verhindern und Munition zu sparen, die immer knapper wird, feuert er nur kurze Salven. Der deutsche Beschuss, das Pfeifen der Kugeln, wird weniger. Keiner ist über den Fluss gekommen. Harald lässt den Kopf sinken, sieht sich um, und sein Blick trifft auf all das Rot im Schnee vor dem benachbarten Posten, Spuren von Alf, der von zwei Vorgesetzten auf einen Mantel gelegt und weggeschleift worden war.
Der Geruch von Schießpulver, heißem Metall, Blut, Tod.
Den Rest des Tages herrschte Stellungskrieg. Die Deutschen sorgten dafür, dass sie sich nicht rühren konnten, eröffneten bei der kleinsten Bewegung das Feuer. Du bohrst in der Nase, und in der nächsten Sekunde ertönt ein Pfff über deinem Kopf und an dem Baum hinter dir verschwindet ein Zweig. Wie viele waren es? Der Hauptmann schätzte sie auf tausend, unmöglich zu wissen.
Erst jetzt spürte Harald den Hunger. Ein saftiges Beefsteak! Er hatte seit dem Vorabend nichts gegessen. In der Tasche hatte er noch immer den harten Brotkanten stecken, er saugte mehr daran, als dass er kaute, während er die Gerichte aus der Speisekarte vor sich sah, die er tagtäglich im Theatercaféen serviert hatte. »Hummerpastete« … »Tournedos mit Champignons« … »Schneehuhn mit Kompott« … »Pfirsich Melba« …
Einige Sekunden lang – in seiner Vorstellung war dies unmittelbar ein schwarzer Moment – musste er daran denken, dass er hier lag und auf Menschen schoss, die er bis vor wenigen Wochen noch als seine Gäste betrachtet und mit einem Lächeln bedient hätte, wenn sie als Touristen nach Oslo gekommen wären. Deshalb liebte er das Theatercaféen. Es war ein Treffpunkt. Nicht nur ausländische Reisende kamen dorthin, sondern ebenso Diplomaten und Journalisten aus allen Ländern. Dazu Schriftsteller, Künstler, die norwegische Geisteselite. Es war, als befände man sich mitten in einem Dynamo, einem Energiezentrum.
Bücher. Eines Abends hatte er ein Gespräch mitgehört, bei dem ein Gast den anderen am Tisch Sitzenden etwas über den Wissenschaftler Albert Einstein erzählt hatte. Vor einigen Jahren habe Einstein dem Psychoanalytiker Sigmund Freud einen offenen Brief geschrieben, der später, zusammen mit Freuds Antwort, als kleines Büchlein erschienen sei. Während der Diskussion hatte der Gast mit dem Buch herumgewedelt wie mit einer weißen Flagge, und als sie gegangen waren, hatte er es Harald überreicht, wie als Geschenk für einen Gleichgesinnten – und Harald hatte es gelesen.
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